Vom Ende der Gemütlichkeit

David Werner

Im vergangenen Dezember sieht sich David herausgefordert, seine festlich-familiäre Komfortzone zu verlassen. Er beschließt das Weihnachtswunder in diesem Jahr unter den Obdachlosen auf den Straßen Hannovers zu suchen. Dafür bekommt er eine neue Dankbarkeit geschenkt.

„Wenn Gott redet, ist die Gemütlichkeit zu Ende“. Als ich diese Worte von Peter Hahne, dem aus dem ZDF bekannten christlichen Fernsehmoderator und Buchautor, einige Wochen vor Weihnachten am Frühstückstisch höre, passiert erstmal nicht viel. Ich mache mich wie geplant auf den Weg zur Bahnhaltestelle, döse auf der 45-minütigen Fahrt durch die Dunkelheit immer wieder ein und bin doch nicht wirklich ausgeschlafen, als ich schließlich, so richtig hell ist es immer noch nicht, an meinem Arbeitsplatz ankomme.

Worte, die mich nicht mehr loslassen

Für gewöhnlich kann ich mir Bibelverse, Zitate oder andere Weisheiten eher schlecht merken. Auch bei der Kurzzeitbibelschule, die ich vor einigen Jahren besucht hatte, schafften es die meisten Verse, die es auswendig zu lernen galt, nur ins Kurzzeitgedächtnis. Dieses Mal ist es anders. Die Tage vergehen, Weihnachten rückt immer näher und Peter Hahnes provokant formulierter Vers geistert immer wieder durch meinen Kopf.

Zwar ziehe ich Ferienwohnungen dem Campingplatz vor und dusche auch nur dann mit kaltem Wasser, wenn die Warmwasseraufbereitung mal wieder nicht funktioniert. Trotzdem würde ich mich nicht als jemanden beschreiben, der sein Leben nach Komfort und Gemütlichkeit ausrichtet. Für Weihnachten im Kreis der Familie, den Spätgottesdienst an Heiligabend in der bekannten Kirche und ein bisschen Gemütlichkeit kann ich mich in diesem Jahr dennoch erwärmen.

Rückkehr in eine fremde Welt

Ein paar Wochen später, es sind nur noch wenige Tage bis zum Christfest, sitze ich in einem mit „Weihnachtstouristen“ gefüllten ICE und bin auf dem Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt. Aller Vorfreude auf ein gemütliches Weihnachten zu Hause zum Trotz habe ich mich bei „Christmas in the City“, einer sozial-missionarischen Einsatzwoche in Hannovers Drogenszene, angemeldet. Was mich bei der von „Neues Land“, einer christlichen Drogenarbeit mit mehreren Therapiehäusern, organisierten Aktion erwartet, weiß ich einerseits schon, da es nicht das erste Mal ist, dass ich an diesem besonderen Weihnachtsprogramm teilnehme. Andererseits ist es wieder ein Schritt in eine fremde Welt: Es erwarten mich Begegnungen mit Menschen, die vom Leben nichts mehr erwarten und sich aufgegeben haben. Menschen, die die Hoffnungslosigkeit, in der sie gefangen sind, nicht mehr verstecken (können).

Meine neue Dankbarkeit

Es dauert ein paar Tage bis ich die ersten Berührungsängste überwunden habe, ohne Scheu auf die Menschen zugehen kann und dann häufig „nur“ zuhöre. Ich höre viel von Kinder- und Jugendzeiten, die alles andere als behütet waren und werde dabei neu dankbar für meine Familie und die Zuneigung, die ich von meinen Eltern erfahren habe. Es geht um gescheiterte Therapien, bei manchem waren es Dutzende, mal sind es betrogene Arbeiter aus Osteuropa, die auf Hannovers Straßen gestrandet sind, und von dort nicht mehr wegkommen.

Bei allem Zerbruch und Getrieben sein, dem man sich nicht entziehen kann, wenn man sich den Menschen zuwendet, nehme ich auch eine große Wertschätzung für unseren Dienst wahr. Ein ehrliches „Danke“ oder ein liebevolles Lächeln für einen Kaffee von einem vom Leben gezeichneten Mann, der ansonsten niemandem vertrauen kann, in der Obdachlosenunterkunft sogar sein Hab und Gut, zusammengepackt und verstaut in wenigen Gepäckstücken, mit auf die Toilette nimmt, sind in diesen Tagen unser Lohn.

Obdachlose, Alkoholiker und Drogenabhängige werden nicht nur in Hannover so gut es mit legalen Mitteln geht an den Rand der Gesellschaft geschoben. Die Substitutionsprogramme versorgen viele täglich auf Kosten der Beitragszahler mit der notwendigen Ration „Stoff“. Hilfe beim Ausweg gibt es kaum.

Jesus schenkt Freiheit

Je näher Heiligabend rückt, desto voller werden die Straßen. Reisende gehen eilenden Schrittes zum Bahnhof, um noch rechtzeitig daheim anzukommen.

Diejenigen, die kein Zuhause haben, ihre Nöte mit Alkohol und Drogen betäuben, haben wenig Vorfreude auf die Feiertage. Der Verlust von Angehörigen oder Weggefährten wiegt in diesen Tagen noch schwerer, die Einsamkeit verfolgt manchen wie ein treuer Begleiter.

Ich fühle mich in der Zwischenzeit angekommen, habe viele der 90 anderen Teilnehmenden von „Christmas in the City“ etwas besser kennengelernt und empfinde Freude daran, Zeit mit den Menschen auf der Straße zu verbringen. Besonders begeistern mich die Unterhaltungen mit anderen Mitarbeitenden, ehemaligen Drogenabhängigen, die bereits seit Jahren ein Leben in Freiheit führen, eine Therapie erfolgreich durchlaufen haben und nun auch mit Jesus durchs Leben gehen. Sie haben eine besondere Leidenschaft für ihre ehemaligen Weggefährten, die immer noch im Sumpf der Abhängigkeit feststecken und für die sich die Spirale fortwährend nach unten bewegt. Von Jahren auf der Straße, Gefängnisaufenthalten und der Zerstörung, die die illegalen Substanzen auch in ihrem Leben angerichtet haben, gezeichnet, verbreiten sie nicht nur in der Weihnachtszeit Hoffnung auf ein Leben in wirklicher Freiheit.

Heiligabend im SOS-Bistro

Als in den Kirchen der Stadt Tausende gerührte Kehlen „O du Fröhliche“ schmettern, wird die Menschenschlange vor dem „SOS-Bistro“, dem Hauptquartier von „Neues Land“ in Hannover, immer länger. Die Weihnachtsfeier im Rahmen von „Christmas in the City“ ist für viele zu einer festen Institution an Heiligabend geworden. Es ist der Platz, der diejenigen aufnimmt, die (nicht nur) an Heiligabend niemanden haben.

Im Innern geht es kurz vor dem Einlass geschäftig zu: Die Helfer in der Küche nehmen Stellung, um das Essen zu servieren, der Punsch wird portioniert und findet schnell nach Öffnung der Türen dankbare Abnehmer. Nicht nur ich frage mich mit kindlicher Spannung: „Sehen wir einige von denen wieder, die wir in den vergangenen Tagen kennengelernt und eingeladen haben?“

Es wird ein stimmungsvoller Abend. Die vielen Gäste fühlen sich sichtlich wohl und sind erleichtert, den Heiligen Abend nicht allein verbringen zu müssen. Nach der Weihnachtsgeschichte überreichen Kinder den gerührten Gästen schließlich die Geschenke, gespendet von christlichen Gemeinden aus der Umgebung. Ich ertappe mich, wie meine Augen im Laufe des Programms umherstreifen und die Besucher mustern. So mancher Anblick führt zu einem Schmunzeln, z.B. über einen Gast, der während seines Aufenthalts seine überdimensionierten Kopfhörer nicht abnimmt. Auf vielen der von Enttäuschungen und Tiefschlägen gezeichneten Gesichtern ist ein Lächeln zu sehen. Es ist Weihnachten geworden, mitten in Hannover und hoffentlich in vielen Herzen.

Was bleibt

„Ich muss hier raus, das ist mir zu viel Liebe“, höre ich eine junge Frau von ihren Gefühlen überwältigt sagen, bevor sie mit glasigen Augen den Raum verlässt. Es gab schon schlimmere Gründe, warum Menschen gegangen sind, denke ich mir.

Was bleibt nach acht Tagen „Christmas in the City“? Es sind wohl die vielen Begegnungen mit den Menschen in den dunklen Ecken Hannovers. Es ist die Hoffnung, dass sich der eine oder andere im neuen Jahr auf den Weg macht, seine Drogensucht hinter sich zu lassen und mit einer Therapie zu beginnen. Und es bleibt die Gewissheit, dass Jesus diese Menschen liebt! So sehr, dass er es vor über 2.000 Jahren Weihnachten hat werden lassen.

 

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