Unbekannte Personen der Bibel: Maria aus Jerusalem

von Dr. Ulrich Wendel

Immobilienbesitz für Gottes Reich

Wie kommt es eigentlich, dass Christen noch Häuser haben? Jesus hat doch klar gesagt: „Verkauft, was ihr habt, und gebt es den Bedürftigen!“ (Lukas 12,33), und: „Geht in die ganze Welt!“ (Markus 16,15). Häuser, in denen man dauerhaft wohnt, sind in diesen Anweisungen nicht vorgesehen – oder?

Die ersten Christen haben sehr oft radikal befolgt, was Jesus lehrte. Zu den ersten Christen in Jerusalem gehörte Maria – nicht die Mutter von Jesus, sondern eine andere Frau gleichen Namens. Ihr Sohn war Johannes Markus, später ein Begleiter der Apostel. Barnabas, ein wichtiger Missionar und Mentor in der jungen Christenheit, war ihr Schwager oder Neffe.

Im Bericht der Apostelgeschichte erfahren wir nicht nur, wo Maria wohnte – in Jerusalem –, sondern auch, wie sie wohnte. Sie besaß ein Haus, und zwar ein recht großes. Es verfügte über eine Art Vorhof oder eine Toranlage und es war geräumig genug, einer großen Hausgemeinde Raum für Gebet und Gottesdienst zu geben. Zum Haushalt gehörte auch eine Magd oder Sklavin – auch dies ein Indiz dafür, dass Maria ziemlich wohlhabend war (Apostelgeschichte 12,12-14).

In der Gemeinde von Jesus waren immer auch begüterte Menschen. Einige haben ihren Grundbesitz verkauft, um das Geld zu spenden, aber nicht alle taten das. Maria steht dafür, dass man seinen Immobilienbesitz auch anders für Gottes Reich einsetzen kann. Sie behielt ihr Haus, machte es aber zu einem Instrument für Gott.

Gastgeberin in gefährlichen Zeiten

Zunächst: Sie öffnete ihr Haus für die Gemeinde. Sie ließ es also zu, dass andere Leute durch ihren Hof und ihr Wohnzimmer trampelten und das Haus mit ihrem Lärm, ihrem Geruch und ihren Krümeln erfüllten. Sie stimmte zu, dass in ihrer Küche Essen für andere zubereitet wurde. Sie war einverstanden, dass immer wieder nicht sie selbst als Hausherrin bestimmte, was in ihren vier Wänden ablief, sondern der Leiter des Gottesdienstes. Und sie setzte die Arbeitskraft ihrer Magd ein, um alles hinterher wieder sauberzumachen.

Maria hielt an diesen Entscheidungen auch dann fest, als es für Christen gefährlich wurde. Nachdem in Jerusalem bereits Stephanus gesteinigt worden war, löste König Herodes bald eine zweite Verfolgungs- und Misshandlungswelle aus. Der Apostel Jakobus wurde geköpft und Petrus war gerade verhaftet worden, um ebenso getötet zu werden. Eine brenzlige Lage, in der man wohl gern erst einmal abtauchen und sich still verhalten würde. Gut möglich, dass die Behörden den Christen ihr Eigentum wegnehmen würden – wenig später ist das nachweislich passiert (Hebräer 10,34). Da wäre es vielleicht ratsam, nicht auf sich aufmerksam zu machen, zum Beispiel durch Besucherströme von 30 oder 40 Christen, die ihre Schritte ins Haus lenken. Doch Maria hielt ihr Haus weiterhin offen für die Gemeinde.

Soziale Unterschiede trennen nicht

Sie gab den Betern dabei mehr als ein Dach über dem Kopf. Sie gestaltete das Leben und das Erscheinungsbild der Gemeinde mit. Sie tat das Ihre hinzu, damit die Gemeinde genau so aussehen konnte, wie Jesus sie sich gedacht hatte: als eine Gemeinschaft von ganz unterschiedlichen Leuten verschiedenster Herkunft und mit unterschiedlichem sozialen Status – und in dieser Zusammensetzung eins in Christus. Maria selbst, die reiche Frau, war Teil dieser Gemeinde. Viele andere waren nicht so begütert. Und Marias Sklavin stand sicher am unteren Ende der sozialen Skala. Dennoch gehörte sie voll und ganz zur Gemeinde und nahm am Gemeindeleben teil. Ein Detail der biblischen Berichterstattung verrät uns das: Als der Apostel Petrus durch ein Wunder Gottes aus dem Gefängnis frei kam, ging er sofort zu Marias Haus, wo er – zu Recht – die Gemeinde  vermutete. Auf sein Klopfen sollte Marias Sklavin öffnen. Am Tor erkannte sie gleich die Stimme des Apostels. Das lässt ja darauf schließen, dass sie Petrus schon oft gehört hatte – dass sie also an den Gottesdiensten teilnahm und häufig unter seiner Predigt gesessen hatte.

Marias Haus war also ein Werkzeug für Gottes Reich: Sie hatte einen Ort geschaffen, wo die Glaubenden zuhause sein konnten, und sie hat in ihrem Leben und ihren Beziehungen die Maßstäbe von Jesus widergespiegelt. Sie hat mehr als ein Haus eingesetzt: Ihr ganzes Leben ließ sie vom Evangelium prägen.

Zwei Modelle der Nachfolge

Damit lebte Maria eins von zwei möglichen Modellen, nämlich das der sesshaften Jesusnachfolge. Natürlich gab es auch noch das andere Modell – das der reisenden Missionare. Auch als Jesus nicht mehr auf der Erde war, als er also nicht mehr mit seinen Jüngerinnen und Jüngern durch Galiläa zog, gab es viele Christen, die „hingingen in alle Welt“. Marias Sohn Johannes Markus und ihr Verwandter Barnabas stehen für dieses andere Modell. Johannes Markus und Barnabas waren die Begleiter von Paulus auf der ersten Missionsreise und reisten später zusammen nach Zypern. Wenn man im Neuen Testament nachschlägt, wo Johannes Markus genannt wird, und wenn man an den betreffenden Orten Fähnchen in die Landkarte steckt, dann kommen neben Jerusalem und Zypern noch die Landschaft Pamphylien (an der Südküste der heutigen Türkei), Kolossä, Rom und vielleicht Cäsarea in Betracht. Reiserouten, die sich quer durch den Mittelmeerraum spannen. Johannes Markus ist damit das Gegenbild zu seiner sesshaften Mutter.

Damit Johannes das sein konnte, musste seine Mutter ihn loslassen. Das hat sie auch getan. Im Grunde hat sie aber auch ihr Haus losgelassen, zumindest ihren Anspruch darauf. Sie hat es in den Dienst für Gott gestellt. Mobiler Missionar oder Immobilienbesitzer – beide Lebensentwürfe geben die Möglichkeit, Jesus zu folgen und für Gottes Reich da zu sein. Man muss dafür Christus den Herrn sein lassen: den Herrn über Wohnort und Reiseziele und auch den Herrn im Haus.

 

Dieser Artikel erschien im Magazin Faszination Bibel.

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