„Einheit – das ist für mich eine der größten Fragen“

Christof Klenk

Der Gemeindeberater Dr. Stefan Vatter erzählt im Interview, weshalb die Kleingruppenarbeit der Zukunft offene Strukturen braucht, was sich Menschen von Gemeinde erhoffen und warum er viele Gottesdienste für langweilig halt

Was bedeutet es für dich, wenn Paulus sagt, die Gemeinde sei ein Leib Christi? Wie sind Gemeinden gestrickt, in denen das ge- lebt wird?

Ich finde das meiste, was zum Thema „Einheit“ gesagt wird, nicht befriedigend. In Gemeinden wird viel über Einheit gesprochen, es gibt ein starkes Bestreben sowohl innerhalb einer Gemeinde als auch unter Gemeinden. Der Wunsch entspricht ja dem Wort von Jesus, dass wir eins sein sollen. Zugleich ist es für mich eine der größten Fragen in einzelnen Gemeinden, zwischen den Gemeinden, unter den Konfessionen. Ich glaube nicht, dass die säkulare Welt hier von uns etwas lernen kann. Das soll uns demütig machen. Sie kann vielleicht von uns lernen, wie groß die Gnade Gottes ist, trotz unserer exorbitanten Uneinheit.

 

Woran machst du das fest? Was führt am häufigsten zum Scheitern der Einheit?

In unseren Gemeinden tun wir gut daran, die Dimension der Demut neu zu erfassen. In Epheser 5 ist das so formuliert:

„Seid einander untertan in der Furcht Christi.“ Interessant ist, dass es hier nicht heißt „in der Liebe Christi“, was man heute eigentlich erwarten würde, weil die Liebe ja als Allzweckwaffe gilt. Das ist sie aber nicht. Hier steht nicht „in der Liebe Christi“, weil das nicht funktioniert, sondern „in der Furcht Christi“. Ich glaube, dass darin ein großes Geheimnis liegt. Wenn wir uns selbst zurücknehmen, weil wir Gott respektieren und achten, kann er Großes unter uns bewirken. Wenn unsere Kultur davon geprägt ist, ist das ein Nährboden für Einheit, für eine Einheit, die Substanz hat und auch von der Außenwelt wahrgenommen wird.

 

Du hast gesagt, Liebe als Allzweckwaffe funktioniert nicht. Kannst du noch was dazu sagen?

Wir hatten vor etwa 500 Jahren eine starke Einseitigkeit im Gottesbild: Gott als der Souveräne, Heilige, der Richter, der über alles schaut. Ein Gott, vor dem man Angst haben muss. Heute haben wir genau das Gegenteil, ein Gottesbild, das davon ausgeht, dass Gott die Liebe ist – und damit ist scheinbar alles über Gott gesagt. Doch das stimmt nicht. Erstens: Jesus hat nie explizit gesagt: Gott ist die Liebe. In keinem Evangelium ist der Satz überliefert. Das muss uns nachdenklich stimmen. Natürlich hat Jesus Gott als den liebenden Vater im Himmel offenbart, aber eben nicht nur das. Zweitens: Der Heilige Geist heißt so, weil mit „heilig“ sein Wesen beschrieben wird. Nach den heute gängigen Vorstellungen müsste er eigentlich der „liebende Geist“ heißen. Und ein Drittes: In Offenbarung 4,8 wird beschrieben, dass wir in der Gegenwart Gottes vor ihm niederfallen werden und etwas zum Ausdruck bringen, was uns ergreift. Wir werden rufen: „Heilig, heilig, heilig.“ Dazu kommt, dass das Wort „Liebe“ inflationär verwendet wird. Liebe kommt vom mittelhochdeutschen lib, und lib heißt: was mir angenehm ist. Das ist nicht gerade sehr aussagekräftig, wir wissen, dass es im Griechischen schon viel differenzierter ist: agape, eros und philia.

 

Für viele Christen sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kirchen kaum noch nachvollziehbar. Sie suchen vorallem eine Gemeinde, in der sie sich wohlfühlen.

Ich glaube, es geht nicht ums Wohlfühlen. Es geht darum, existenziell abgeholt zu werden. Man spürt, dass man etwas bekommt, was man für sein Leben dringend benötigt. Drei Ebenen: Im Lobpreis und in der Anbetung begegnen wir Gott. Ich habe die Möglichkeit, Gott meine Liebe zum Ausdruck zu bringen. Das berührt meine Seele im Tiefsten, ist Nahrung für die Seele. In der Wortverkündigung erhalte ich Impulse für mein Leben und Inspiration. Das übt eine Faszination aus. Die dritte Dimension ist Gemeinschaft. Echte Freundschaften zu Menschen, mit denen ich zusammen meinen Glauben teilen kann. Das hat eine hohe Zugkraft! Ich nehme bei allen Generationen wahr, aber besonders bei den Jüngeren, dass genau danach gesucht wird: Wo finde ich Inspirationen für mein Leben, wo finde ich Qualitätsbeziehungen und wo finde ich etwas, was emotional berührt? Das zeichnet gute Gottesdienste aus, diese drei Dimensionen …

 

Inwieweit hat es mit mir selbst zu tun, ob ich diese Dinge in meiner Gemeinde erlebe?

Ich kann nicht erwarten, dass ich in den zwei Stunden am Sonntagvormittag von einem tiefgefrorenen Zustand in einen Zustand der Wärme geführt werde. Wenn ich mit Freude in meinem Glauben lebe, werde ich ganz anders in den Gottesdienst kommen. Gerade bei jungen Menschen kann man das oft beobachten, wenn im Gottesdienst der Lobpreis anfängt, dann brauchen sie wenige Sekunden, dann sind sie im Lob- preis. Sie brauchen keine großen Anlaufzeiten, und das spricht dafür, dass hier Menschen zusammenkommen, die auch unter der Woche Gott loben und preisen. Wichtig ist, mit welcher inneren Haltung ich komme: „Mal schauen, wer mich heute segnen wird“ oder „Durch wen will Gott mich segnen?“ oder „Wie wird Gott mich gebrauchen, dass ich andere segnen kann?“. Wer bereit ist, andere zu segnen, wird gesegnet werden. Wer nur kommt, um zu empfangen, geht oft leer aus.

 

Für manche Christen ist ihre Gemeinde vor allem eine Zumutung. Sie bringen sich ein, erleben aber Entäuschungen, Begrenzungen und Grabenkämpfe.

Ich glaube, dass hier dem fünffältigen Dienst nach Epheser 4,11 (mehr dazu in Einheit 6) eine große Bedeutung zukommt. Wenn in einer Gemeinde Hirten, Propheten, Evangelisten, Lehrer und Apostel gegenwärtig sind, dann werden wir viel mehr Menschen abholen. Wenn ich evangelistisch aktiv sein möchte und dafür in der Gemeinde keinen Raum finde, weil sie von einem Hirten dominiert wird, dann werde ich unzufrieden sein. Das ist keine gute Voraussetzung für eine Gemeinde. Deshalb glaube ich, dass es eine große Hilfe ist, sich darüber Gedanken zu machen: Wie können wir den unterschiedlichen Begabungen und Potenzialen gerecht werden?

 

Man hört immer wieder, dass Menschen so sehr unter ihrer Gemeinde leiden, dass sie daran kaputgehen. Wo ist die Grenze zwischen einer unperfekten Gemeinde – das sind ja alle– und einer missbräuchlichen?

Die Aussage, dass eine Gemeinde Menschen kaputtmacht, kenne ich von jeder größeren Gemeinde, die ein bisschen bekannt ist. Es gibt auch keinen geistlichen Leiter, der etwas Profil hat, über den das nicht auch irgendwann und irgendwo mal gesagt worden ist. Also, wie unterscheiden wir hier? Zum einen gibt es Projektionen oder sonstige Unzufriedenheiten, zum anderen gibt es auch Leute, die tatsächlich Missbrauch erleben. Ich glaube, dass geistlicher Missbrauch von Leitern dadurch kenntlich wird, dass mehrere voneinander unabhängige Personen das bestätigen. Nach dem biblischen Prinzip: Wenn zwei oder drei eine Komplikation bei einem Leiter feststellen, dann ist die Gemeindeleitung verpflichtet, dem nachzugehen. Oder auch die Leitung einer Freikirche oder Landeskirche.

 

Christian A. Schwarz hat vor einigen Jahren eine Veränderung in der Gemeindeteilnahme festgestellt. Er nennt das „participation shift“. Dass Leute sich zwar einer Gemeinde zugehörig fühlen, aber lange nicht mehr so oft zum Gotesdienst kommen. Machst du diese Beobachtung auch?

Es ist nach wie vor so, dass Menschen nach Heimat suchen, nach Identität, nach Geborgenheit, nach Beziehungen. Wenn Menschen wahrnehmen, dass sie gewollt sind, dass sie Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung haben, dass sie echte Freundschaften finden, dann bin ich überzeugt, dass sie in solchen Gruppen  und Veranstaltungen sein wollen. Es gibt viele soziologische Untersuchungen, die genau in die Richtung gehen. Nur: Unsere Gottesdienste sind einfach oft sehr langweilig. Sie sind Gefäße theoretisch richtiger Verkündigung, aber nicht lebensnah und auch nicht vollmächtig im Sinne von: Was kann ich denn damit machen? Es fehlt auch ein Raum, wo man nach dem Gottesdienst zusammenkommen und Gemeinschaft haben kann. Was nach dem Gottesdienst passiert, ist mindestens so entscheidend wie das, was im Gottesdienst passiert. Man sieht an den neuen Bewegungen, also ICF, Hillsong, Ecclesia und wie sie alle heißen, dass hier keine Bindungskraft verloren gegangen ist. Da passiert genau das Gegenteil. Die jungen Leute sind mit ganzer Kraft dabei und voll motiviert. Dass man dableibt, weil sich das so gehört und es schon immer so war, das gibt es kaum noch. Das ist in allen Generationen wahrnehmbar.

 

Inspiration für mein Leben, emotional berührt werden, Gemeinschaft erleben – wie kommen bei den drei Dimensionen, die du benannt hast, die Hauskreise und Kleingruppen ins Spiel?

Ich glaube, dass Gefäße für persönliche Beziehungen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes berühren können, das dürfen wir nicht unterschätzen. Sich umarmen, sich sehen, sich wahrnehmen, sich riechen – das macht was mit uns Menschen. Gruppen, in denen ich Heimat, Freundschaft und Wärme erleben kann, sind absolut zeitgemäß. Durch die Begegnung mit dem „Du“ komme ich zum „Ich“. Da sind wir einem Geheimnis auf der Spur. Das hat Gott in uns angelegt.

 

Was ist das Modell der Zukunft aus deiner Sicht?

In meiner Gemeinde hatten wir nur sehr wenig Hauskreise und Kleingruppen, deshalb habe ich vor zwanzig Jahren intensiv darauf hingearbeitet, dass wir eine gute Struktur für die persönlichen kleinen Beziehungsgeflechte aufbauen. Zum Schluss hatten wir 60 Hauskreisleitende und Co-Leitende. Das war damals gut, aber heute muss man die Kleingruppenarbeit sehr flexibel gestalten. Da muss man Raum für ganz unterschiedliche Gruppen schaffen.

 

Könntest du ein paar Beispiele nennen?

Da kann es eine Gruppe für Selbstständige geben oder einen Alphakurs am Arbeitsplatz, wo man in der Mittagspause mit anderen Kollegen fünfzehn Minuten zusammenkommt. Organisches, das aus dem Leben kommt, hat Zukunft. Ein Extratermin am Abend, bei dem ich Leute treffen soll, mit denen ich sonst nicht zusammen bin – das ist Vergangenheit. Das wird es immer schwerer haben. Organisch wäre auch, die Familie neu als Kleingruppe zu entdecken. Zum Beispiel hatten wir in unserer Gemeinde den Impuls: Feiert doch zu Ostern gemeinsam als Familie Abendmahl! Unsere Kinder waren da, es war schönes Wetter, wir saßen zusammen auf der Terrasse, haben ein Gesellschaftsspiel gespielt und dann gemeinsam das Abendmahl gefeiert. Das war einfach und tief, weil alles sehr organisch daherkam. Wir sind sowieso zusammen, es ist alles da, alles vorbereitet, wir haben gemeinsam gebetet: alles kein großer Aufwand. Das hat Potenzial, dass wir das, was wir sowieso machen, mehr nutzen, um geistlich voneinander zu partizipieren. Entscheidend ist, dass wir Jesus in den Mittelpunkt stellen.

 

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Den Nächsten im Blick

Nathanael Ullmann

Hans-Martin Wiedemann strotzt nur so vor Energie. Das ist vor allem verwunderlich, wenn man bedenkt, wie viele ehrenamtliche Projekte der 60-Jährige neben seinem Beruf noch meistert.

Hans-Martin Wiedemann ist ein ehrenamtlicher Tausendsassa. Er sitzt im Gemeinderat seiner Kirche, engagiert sich bei der Kolpingfamilie und hilft bei der Caritas. Aber auch außerhalb der kirchlichen Strukturen endet sein Engagement nicht. Im Flüchtlingsnetzwerk ist er ebenfalls voll mit dabei. „Ich kann das nicht haben, wenn Menschen auf der Straße leben oder keinen Zugang zu Bildung haben“, so der Bochumer. Früher habe er bis zu 16 Stunden täglich als Werkzeugvertriebler gearbeitet. „Dann habe ich mir gedacht: Das kann es nicht sein.“ Wiedemann fuhr seine Stundenzahl zurück und engagiert sich seitdem verstärkt ehrenamtlich. Das sei zwar nicht bezahlt, gebe ihm aber ganz viel zurück.

Kleiderkammer fehlte

Auf die Flüchtlingsarbeit ist er durch das Bibelteilen (gemeinsames Bibellesen) gekommen. Zusammen hatte das Team überlegt, wo ihre Hilfe am ehesten gebraucht wird. Schnell war klar: Im Bochumer Stadtteil Langendreer fehlte es an einer Kleiderkammer. „Wir haben dienstags Bibel geteilt und den Sonntag darauf die Kleiderkammer eingerichtet“, erinnert sich der Ehrenamtliche.

Mittlerweile sind die meisten Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht, die Kleiderkammer ist überflüssig geworden. Für Wiedemann endet die Arbeit damit nicht. Nach wie vor ist er im koordinativen Bereich der Flüchtlingsarbeit tätig. Der zweifache Vater ist in unterschiedlichen Vereinen im Stadtteil unterwegs. Für jeden Belang weiß er den richtigen Ansprechpartner. Aber auch den persönlichen Kontakt zu den Geflüchteten unterhält er noch: „Die sind mir ans Herz gewachsen.“

Vorbild Adolph Kolping

Motiviert wird Hans-Martin Wiedemann durch sein großes Vorbild: Adolph Kolping. „Für ihn hat Kirche eine wichtige Rolle gespielt. Aber vor allem sein soziales Engagement für die Menschen, die keine Fürsprecher haben, inspiriert mich“, erzählt er begeistert. Zusätzlich dazu stärkt seine Frau ihm den Rücken: „Wenn ich meine Frau nicht hätte, könnte ich viele Projekte, die mir wichtig sind, so nicht umsetzen.“

Und wenn dann doch mal die Motivation schwindet? „Dann gucke ich abends noch mal aufs Kreuz oder morgens beim Guten-Morgen-Gebet, dann geht das.“ Besonders, wenn Wiedemann die Früchte seiner Arbeit sieht, findet er neue Energie. Vor einiger Zeit hat sich der Ehrenamtliche dafür stark gemacht, eine Flüchtlingsfamilie über dem Gemeindehaus einziehen zu lassen. „Wenn ich dann die Kinder auf dem Kirchplatz sehe, denke ich jedes Mal, dass es sich dafür gelohnt hat.“

In die Flüchtlingsarbeit einsteigen könne übrigens jeder, davon ist der gläubige Katholik überzeugt. Voraussetzungen müsse man keine mitbringen. „Jeder Mensch hat Gaben, die Gott ihm geschenkt hat. Der eine kann vielleicht besser vorlesen, der andere Möbel schleppen.“

 

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Begegnung auf der Brücke

Susanne Tobies

Sind ein paar Brötchen genug? Unruhige Gedanken über Hilfe und Hilflosigkeit.

Auf dem Weg zu einer Besorgung in einem von mir wenig besuchten Stadtteil sehe ich etwa hundert Meter vor mir rechts und links der Straße Brückengeländer, die mit Müll, Plastikplanen, Decken und allerlei Gerümpel belegt sind. Als mein Auto auf gleicher Höhe ist, nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr: Ein offensichtlich Obdachloser kauert zwischen dem Unrat und hebt einen Arm. Ich weiß nicht – grüßt er mich Vorbeifahrende oder ist es eine willkürliche Bewegung? Auf jeden Fall ist meine Aufmerksamkeit geweckt. Ein plötzlicher Gedanke durchzuckt mich: „Du solltest dem Wohnungslosen Beachtung schenken! Ihm begegnen.“

Was war das für ein Impuls? Kam er von Gott? Oder war das einfach eine unausweichliche Idee, weil ich christlich sozialisiert bin? Inzwischen bin ich schon viele Meter weiter gefahren. Aber es lässt mir keine Ruhe. Ich erledige meine Besorgung, halte auf dem Rückweg bei einer Bäckerei und kaufe ein paar Käsebrötchen. Mein Gedanke: Ich könnte sie dem Mann einfach vorbeibringen. Die Brücke, auf der er hockt, ist weit von Läden, Wohnhäusern oder Stadtleben entfernt. Er wird sich bestimmt über etwas zu Essen freuen, so meine Überlegung. Gleichzeitig denke ich: Was für ein verrückter Gedanke – es gibt da gar keine Parkbucht, wo ich gut halten könnte.

Ich bin unentschlossen. Ich könnte einfach vorbeifahren und die Brötchen für meinen Mann und mich zum Abendessen nehmen. In mir kämpft es. Und wenn es doch Gottes Idee ist? Ich will doch auf ihn hören …

 

Aufbauphase …

Je näher ich der Brücke komme, desto unruhiger werde ich. Ich bete kurz: „Herr, wenn du wirklich willst, dass ich zu dem Obdachlosen gehe, dann mach, dass ich das Auto gut abstellen kann.“ Und so geschieht es. Hinter mir kein anderes Auto, ich kann einige Meter hinter dem Brückengeländer vorsichtig auf den unbefestigten Seitenstreifen fahren und sicher parken, dann überquere ich die Straße.

„Moin“, begrüße ich den Mann mit unserem typisch norddeutschen Gruß. „Hätten Sie gern ein paar Brötchen?“ Der Obdachlose schaut mich aus wässerigen Augen an. Er scheint ordentlich „getankt“ zu haben. Seine Kleidung ist schmutzig, er sitzt in einem Berg von Müll, ich bin betroffen. „Ja, danke!“, meint er nur und nimmt die Tüte. „Ist Ihnen nicht kalt?“, frage ich. „Nein, mir ist warm, ich bin ja hier in der Aufbauphase!“

Ich möchte laut auflachen – „Aufbauphase“? Was für ein vornehmes Wort für dieses Chaos-Lager! Gleichzeitig schießen mir die Tränen in die Augen. „Er versucht nur, seine Würde vor mir zu wahren“, denke ich. Der Mann zeigt mir sein Zelt, das er etwas unterhalb der Böschung auf einem Feld aufgeschlagen hat. Ich wechsele noch ein paar Worte mit ihm, verabschiede mich und wünsche ihm einen schönen Tag. „Was für ein Hohn!“, denke ich gleichzeitig. „Wie kann das ein schöner Tag für ihn werden – so im Müll und in der Kälte sitzend? Was nützt ihm da mein frommer Wunsch?“

 

Was war das jetzt?

Kaum sitze ich wieder im Auto, heule ich los wie ein Schlosshund. Es schüttelt mich regelrecht.

Zu Hause angekommen, frage ich mich: Was war das jetzt? Warum habe ich so emotional reagiert? Habe ich wirklich echtes Erbarmen mit diesem Mann? Warum habe ich dann aber nicht mehr für ihn getan? Oder sind die Tränen meinem Gemüt geschuldet, das auch gerne mal bei rührenden Filmszenen weint? Ich trau mich kaum, das so zu denken: Fand ich einfach nur das eigene Bild einer gutsituierten Frau, die einem Obdachlosen freundlich begegnet, so ergreifend, dass mir die Tränen kamen? Wie in einem herzbewegenden Film? Hoffentlich nicht. Scham überflutet mich. Tatsächlich kann ich meine Emotionen nicht wirklich einordnen.

Warum fühlt sich meine Betroffenheit in einem Film genauso an wie jetzt die Betroffenheit über die Situation eines realen Menschen? Ist sie dann echt? Kann man dieser Betroffenheit trauen? Ich habe keine Garantie für meine lauteren Motive.

Viele Fragen bewegen mich. Hätte ich den Mann nicht ins Auto laden müssen, ihm eine Dusche und ein Bett anbieten sollen? Hätte ich mich nicht darüber hinaus darum kümmern müssen, dass er konkrete Hilfe von Behörden oder Einrichtungen bekommt? Hätte ich nicht viel mehr tun müssen als ihm ein paar läppische Brötchen anzubieten?

 

Getröstet …

Am Abend schlage ich das Losungsbuch auf – ich war am Morgen nicht dazu gekommen, die Bibelworte für den Tag zu lesen. Was da steht, haut mich um: „Brich dem Hungrigen dein Brot!“ (Jes 58,7) Und: „Gutes zu tun und mit anderen zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.“ (Hebr 13,16)

Wieder laufen Tränen. Für den Moment fühle ich mich getröstet und von Gott in meinem Gefühlswirrwarr gesehen. Nein, finanziell war es kein Opfer, aber ich hatte als eher introvertierter Mensch meine Komfortzone verlassen – das war eine Gabe anderer Art. Und da kann ich sicher sein: Gott erkennt mein Herz und das hat ihm Freude bereitet, mit diesem Vers sagt er mir das zu. Unglaublich, wie Gott auf mich eingeht!

Später erfahre ich von meinen Freunden, dass genau dieser Obdachlose Stadtgespräch ist und es mit seinem Lager sogar bis in die örtliche Tageszeitung geschafft hat, wo sich zahlreiche Leserbriefe mit ihm beschäftigt hatten. Die Meinungen sind kontrovers und völlig geteilt. Die einen feiern ihn als Freigeist (er sieht sich wohl selbst als Lebens-Künstler), die anderen schimpfen über die vermüllten Plätze auf der Brücke und möchten dem am liebsten ein Ende setzen. Der Mann will sich auch nicht helfen lassen, es haben wohl schon viele ihre Hilfe angeboten, er könnte jederzeit ins städtische Übernachtungsheim ziehen – aber er bevorzugt das Leben im Freien.

 

… aber die Fragen bleiben

Also alles okay? Bin ich entlastet, so ist es halt mit diesem Mann – jeder wählt sein Schicksal selbst? Nein, die Fragen bleiben. Er ist ja nicht der einzige Obdachlose in meiner Stadt. Und nicht der einzige Bedürftige. Es gibt alleinerziehende Frauen, finanziell Notleidende, psychisch Kranke, alte Menschen, die einsam sind – Bedürftigkeit ist selten so offensichtlich wie bei diesem Mann und seinem Lager an der Brücke.

Sie alle stellen eine Herausforderung dar, eine Anfrage – nicht nur an mich, genauso an unsere Gemeinden und Kirchen. „Gutes zu tun vergesst nicht …“ Was tun wir, was tue ich? Für wen setzen wir uns ein? Uns geht es so gut! Was geben wir ab, nicht nur von unserem Reichtum, sondern auch von unserer Zeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung, von unserer Arbeitskraft, von unserer Liebe?

Unsere Gemeinde hat ein Geflüchteten-Café aufgebaut, bei dem ich jetzt im vierten Jahr mithelfe – Hilfe bei der Wohnungssuche, beim Deutschlernen, mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, mit „einfach für sie da sein“. Aber selbst hier scheint der Einsatz nie genug zu sein. Ich weiß, die Menschen brauchen mehr als einmal in der Woche einen Ort, wo sie angenommen sind und Gespräche haben können samt einer Tasse Kaffee oder Tee. Aber ich empfinde mich so oft als zerrissen zwischen dem, was not-wendig scheint, und dem, was ich zu geben bereit bin.

Und was kann ein Einzelner tun? Ist das, was ich tue, schon genug? Kommt es mehr auf mein Herz an – oder auf den Einsatz – oder gar auf ein gutes Ergebnis? Fragen bleiben. Ein schlechtes Gewissen ist oft mein Begleiter. Ich würde so gern Frieden finden, mich in dem Gefühl zurücklehnen, meinen Teil beigetragen zu haben. Aber vielleicht ist die bleibende Unruhe auch wichtig. Vielleicht ist es eine „heilige Unruhe“, damit ich offen bleibe für die Not anderer Menschen und ein weiches Herz bekomme und behalte für die, die Jesus so sehr liebt: die Armen, die Hungrigen, die Kranken, die Gefangenen, die Witwen und Waisen, die Benachteiligten und Außenseiter dieser Welt.

Ein berührbares Herz, ein paar Käsebrötchen, ein kleiner Anfall von Mut – und viele Fragen, die mich weiter umtreiben …

 

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10 Tipps zum Entschleunigen

Sarah Lang

Unser Leben wird immer hektischer – das gilt nicht nur für Berufstätige. Oft kommen wie von selbst eine erstaunliche Fülle an Aufgaben und Aktivitäten zusammen. Und einige Jahre später, wenn die Kräfte nachlassen, muss man das Lebenstempo noch mal ganz neu einstellen.

1. Gestehen Sie sich also ein: Ich kann und muss nicht immer mit maximaler Geschwindigkeit durch das Leben rauschen.

2. Gebet bringt Ruhe in den Alltag und setzt den Fokus auf das Wesentliche. Die Gedanken mit und bei Gott zu sortieren, hilft bei der Entschleunigung im Alltag.

3. Nein sagen – ein kleines Wort mit großer Wirkung. Seien Sie ehrlich zu Ihrem Gegenüber bei Anfragen oder Bitten, die an Sie gestellt werden. Und dann trauen Sie sich einfach mal abzusagen!

4. Leben Sie im Hier und Jetzt, statt in Erinnerungen an die Vergangenheit zu schwelgen oder sich um die Zukunft zu sorgen. In Matthäus 6,34 steht: „Deshalb sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug.“

5. Seien Sie achtsam, nehmen Sie die kleinen und großen Dinge um Sie herum wahr. Machen Sie Fotos von Blumen und Sonnenuntergängen, genießen Sie die kühle Limonade an heißen Tagen und freuen Sie sich über den Enkel-Nachmittag.

6. Bewegung tut gut – dem Körper und der Seele. Ein Spaziergang an der frischen Luft hilft, aus eingefahrenen Alltagssituationen und dem eigenen Gedankenkarussell auszusteigen.

7. Kinder entschleunigen ihr Leben ganz natürlich: Sie gehen neugierig auf alles Unbekannte zu, wollen es begreifen, denken deshalb länger darüber nach und vergessen dabei die Zeit. Nehmen Sie sich Kinder zum Vorbild – und bleiben Sie einfach mal auf einer Schaukel sitzen.

8. Nehmen Sie sich bewusst Zeit für Ihr Gegenüber, für ein langes Gespräch, für einen intensiven Austausch. Ihr Gegenüber wird es Ihnen danken – und Sie fokussieren sich nicht zu sehr auf Ihre eigenen Sorgen.

9. Oft wird beim Essen Fernsehen geschaut oder ein Buch gelesen. Nehmen Sie sich Zeit, um wirklich nur zu essen! Genießen Sie das leckere Gericht und freuen Sie sich darüber, wie freundlich der Herr ist!

10. Vor dem Zu-Bett-Gehen können Sie mit Gott gemeinsam den Tag Revue passieren lassen. Sagen Sie ihm, wofür Sie dankbar sind. Das beendet den Tag positiv und bringt Sie zur Ruhe.

 

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Haltepunkte

Jörg Podworny

Das Kopfkino springt sofort an. Es ist ein ungemein spannender, lebenswichtiger und inspirierender Begriff: Halt. Und er wirft sehr schnell die Frage auf: Wann brauche ich eigentlich Halt?

Ein Halt tut gut, wenn ich unsicher bin. Ich habe das gerade wieder im Urlaub erlebt. Wir waren in Dänemark – und außer dem fröhlichen Begrüßungs-„Hej!“ und Straßenschildern mit der Aufschrift „Knallert forbudt“ (etwa „Hier dürfen keine Motorräder – oder ähnliche Fahrzeuge – fahren“) haben wir nicht ganz viel verstanden und sagen können (glücklicherweise sprechen viele Dänen besser Deutsch als viele Deutsche Dänisch). Wenn ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll, gehe ich deutlich unsicherer mit anderen Menschen um. Ähnlich ist es, wenn ich (mit dem Auto) im Nebel unterwegs bin und nicht wirklich sehe, wo es langgeht. Ich brauche Halt, wenn ich rutsche oder zu fallen drohe – wenn es im schlimmsten Fall kein Halten mehr gibt. Nochmal das Beispiel Auto: Mehr als einmal habe ich versucht, auf spiegelglatt vereister Straße zu bremsen … es wurde erst besser, als ich – in umgekehrter Fahrtrichtung – am gegenüberliegenden Straßenrand zum Halten kam.

Überhaupt im Leben: Es wird zumindest komplizierter, wenn nicht überhaupt unmöglich, ein Leben zu führen, in dem es keine Sicherheiten (mehr) gibt, wenn ich nichts habe, woran ich mich (fest)halten kann, keine Orientierung, kein Halteseil; wenn ich nicht weiß, wo’s langgeht oder es kein Halten mehr gibt.

Das gilt ebenso für die Fragen und das Leben im Glauben: Wenn Glaube nichts hat, woran er sich halten kann, wenn Orientierungspunkte fehlen, sorgt das für eine enorme Verunsicherung. Wir wünschen uns, wir hoffen, beten und vertrauen darauf, dass unser, dass mein persönlicher Glaube sich als tragfähig erweist. Gerade dann, wenn es schwierig wird, wenn vieles schwankt und vertraute Planken (vielleicht ganz plötzlich) wegbrechen.

Aber – und das ist das Großartige: Der Glaube an Jesus Christus ist kein verzweifeltes Festhalten an theologischen Richtigkeiten, sondern eine Beziehungs-, eine Vertrauenssache. Es werden ziemlich sicher Schwierigkeiten und unsichere Zeiten oder Momente kommen in meinem Leben. Die meisten könnten dazu ihre Geschichten erzählen. Vielleicht sind diese Zeiten nur ein wenig, vielleicht aber auch richtig ernsthaft bedrohlich. Gut zu wissen, dass Jesus mir gerade dann Halt gibt. Auch wenn ich vieles nicht verstehe, wenn mir selbst die Kraft zum Halten fehlt. Die gute Nachricht darin: Ich muss mich – nicht nur in solch bedrängenden Lagen – nicht selber (fest)halten. Sondern ich werde gehalten. Immer. Daran glaube, darauf vertraue ich.

Ergänzend dazu bedarf es noch eines anderen Haltepunktes: Halt im Sinne von Anhalten, Innehalten. Die Stille und Gegenwart Gottes suchen – als ein Halt zum Auftanken, zu einer neuen Inspiration und Motivation. Im ganz normalen Alltag. Und auch an besonderen Haltepunkten.

Als Redaktion wünschen wir Ihnen für das persönliche wie für das Gemeinde-Leben eine gute Haltung!

 

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Wir alle sind die Kirche

Anna Maria Gerlach

Warum es wichtig ist, über unser kirchliches Selbstverständnis nachzudenken, wenn wir Kirche als Ehrenamtliche gestalten wollen.

„Eine evangelische Kirche, die sich dem Gedanken des Priestertums aller Getauften verpflichtet fühlt, sollte Ehrenamtliche nicht (mehr) als ‚Laien‘ bezeichne. Auf diesen Begriff sollten wir ganz verzichten“, schreibt Steffen Bauer auf der Webseite des Ehrenamtsportals www.evangelisch-ehrenamt.de. Es war die These mit der größten Zustimmung auf den Seiten des EKD-Diskursprojekts zum Thema „Zukunft Ehrenamt“. Über 13 Monate lang konnten in den Jahren 2016 und 2017 online Thesen eingebracht, diskutiert und gewertet werden.

Das Priestertum aller Getauften

Immer wieder sprechen wir von dieser Unterscheidung von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen – sie scheint uns wichtig zu sein. Doch was schwingt eigentlich darin mit? Die Hauptamtlichen, das sind die Profis. Die haben Theologie studiert, die können das: Kirche. Auch mir als Gemeindepädagogin schwingt das manchmal entgegen: „Mach du das mal – du hast das doch studiert!“ Ja, hab ich. Trotzdem: Ehrenamtliche sind keine Laien. Sie sind Christen. Wie ich auch. Das sogenannte „Priestertum aller Getauften“ meint, dass alle Christen Priester sind. Alle sind fähig und berufen dazu, Ämter in einer Gemeinde zu übernehmen. Alle haben die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums (vgl. 1. Petrus 2,9).

Die Reformatoren haben das stark gemacht – in diesem Punkt unterscheiden wir uns also wesentlich von unseren katholischen Geschwistern. Doch damit die Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente geordnet ablaufen, haben wir Hauptamtliche eingesetzt. Sie sind mit den Grundaufgaben der Gesamtgemeinde beauftragt. Dabei dürfen wir uns klarmachen: Ein Pfarrer ist kein Vermittler zwischen Gott und der Gemeinde. Ganz im Gegenteil: Alle sind gleichrangig und wer für ein Amt beauftragt ist, soll von den übrigen Gemeindegliedern kritisch überprüft werden.

Das bedeutet: Hauptamtliche sind der Gemeinde untergeordnet. Sie dienen der Gemeinde. Nicht erst mit Hauptamtlichen ist Kirche Kirche. Auch eine Kirche ohne Pfarrer ist vollwertig Kirche!

Ehrenamt – die zweite Arbeit?!

Das Wort „Ehrenamt“ klingt schon so nach „Arbeit“. Es meint auch ganz simpel eine unentgeltliche Arbeit, oft eine anstrengende Arbeit: „Gibst du den kleinen Finger, wollen sie gleich die ganze Hand“, beschweren sich viele ehrenamtliche Engagierte – verständlicherweise. Schnell kann der Eindruck entstehen, ausgenutzt zu werden, für die Kirche zu arbeiten, aber nicht unbedingt Kirche zu sein.

Ein Blick in die Bibel zeigt, dass es in den ersten Gemeinden dieses Verständnis noch nicht gab. Es gab Ämter. Aber sie wurden nicht als solche bezeichnet. Wo deutsche Bibeln „Amt“ übersetzen, stehen im Griechischen oft Wörter, die zunächst einmal „Dienst“ bedeuten. Und dabei wird nicht unterschieden zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Ein Dienst in der Gemeinde ist nicht in erster Linie eine Arbeit, sondern eben ein Dienst. Ein Dienst an Menschen, zu dem alle Gläubigen berufen sind.

Mich fordert das heraus, neu über mein Verständnis von Ehrenamt nachzudenken: Ist meine Aufgabe etwas, das ich gerne tue, weil ich lieben und dienen möchte, oder übe ich mein Amt aus, weil ich denke, ich muss?

Oft denken wir, wir müssten unsere Ämter ausüben, damit die Kirche „funktioniert“. „Aber wir können doch die Kindergruppen nicht einfach ausfallen lassen!?“, solche oder ähnliche Sätze höre ich immer wieder in Gemeinden, wenn beispielsweise kein Gemeindepädagoge mehr da ist oder die Ehrenamtliche, die die Gruppe immer geleitet hat, plötzlich aufhört. Angebote und Gruppen dürfen auch sterben. Sie dürfen aufhören. Wenn WIR die Kirche sind, können auch WIR darüber entscheiden, wie wir unser Kirche-Sein gestalten möchten.

Eine Aufgabe für einen Menschen

Wenn eine Aufgabe unbesetzt ist, gehen wir meistens so vor: Wir suchen einen Menschen, der diese Aufgabe übernehmen kann. Das klappt nur so mittelgut. Denn dabei müssen viele Menschen erst überredet werden. Die Menschen passen sich oft der Aufgabe an. So ist es kein Wunder, dass die Aufgabe selbst sich als zusätzliche Arbeit anfühlt. Andersherum können Aufgaben beleben und beflügeln: Lasst uns nach Aufgaben für Menschen suchen, nicht nach Menschen für Aufgaben. Jedes Gemeindeglied kann sich fragen, was es für ihn oder sie persönlich bedeutet, Kirche zu sein: Was kann ich gut? Was ist mir wichtig? Wie möchte ich Evangelium verkündigen? Wovon habe ich schon immer geträumt? Und: Wofür habe ich gerade Zeit und Kraft?

Leider stellt Wolfram Dawin vom Zentrum Ökumene der EKHN und EKKW fest: „Die Erfahrungen und Kenntnisse, die Ehrenamtliche aus ihrem Beruf mitbringen, werden viel zu häufig übersehen oder finden keine Anerkennung.“ Gemeindeleiterinnen und Hauptamtliche tun gut daran, den Einzelnen bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen. Manche Aufgaben werden dann erst einmal unbesetzt bleiben. Dann stellt sich die Frage, ob die Aufgabe vielleicht gar nicht so wichtig ist, wie ursprünglich gedacht. Andere Gemeinschaftsformen werden neu entstehen, weil Gemeindeglieder den Raum bekommen, initiativ zu werden und Fähigkeiten aus ganz anderen Lebensbereichen auch in der Gemeinde einzusetzen.

Bei jedem Ehrenamt können wir uns also fragen: Braucht es das? Wollen wir das? Wenn diese Aufgabe für uns wichtig ist, wer führt sie gerne aus? Wenn der Pfarrer weggeht, bleiben Aufgaben liegen. Und das ist in Ordnung. Diejenigen, die da sind, sind die Kirche. Und diejenigen, die da sind, können ganz frei über die Ausgestaltung ihrer Gemeinschaft entscheiden. Nichts muss einfach so weitergehen, nur damit es weitergeht.

Kirche sein

Manchmal verhalten wir uns als Kirche wie eine Dienstleisterin: Wir sind institutionell organisiert und wir machen Angebote für Menschen. Wir laden zu Veranstaltungen ein, wir unterscheiden zwischen Mitarbeitenden und Teilnehmenden, wir bieten Programme an. Dass wir den Menschen dienen, gehört zu unserem kirchlichen Selbstverständnis mit dazu und das ist gut so. Doch die Grundlage fürs Dienen ist wichtig: „Ich denke, dass wir als Kirche nicht irgendein Anbieter von sozialen und kulturellen Dienstleistungen sind, sondern dass diese bei uns immer mit dem Evangelium verknüpft sein sollten: Was Ehrenamtliche leisten, sollte ein Verweis auf das Evangelium sein“, sagt Michael Herbst dazu. Als Kirche sind wir die Gemeinschaft der Heiligen, derjenigen, die zu Jesus gehören, der Leib Christi.

Nach Paulus entsteht Kirche durch die Verbundenheit mit Christus. Der Zugang dazu ist die Taufe und das Abendmahl drückt immer wieder neu aus, dass wir in dieser Gemeinschaft bleiben. Wir Glaubenden werden in diesen Leib Christi eingefügt. Er entsteht nicht erst, wenn sich einzelne Menschen treffen. Christus ist schon da. Der Leib Christi ist schon da. Jesus Christus selbst ermöglicht das Dasein der Kirche. Nicht unsere Strukturen, nicht die Hauptamtlichen.

In der Confessio Augustana und in der Barmer Erklärung wird das bekräftigt: Die Kirche ist dann Leib Christi, wenn das Evangelium in Wort und Sakrament (Taufe und Abendmahl) verkündigt wird. Mehr braucht es nicht. Wir brauchen kein Kirchengebäude, kein Gemeindehaus, keinen Pfarrer. Wir brauchen keine Kinderkirche, keine Gottesdienste anlässlich von Eheschließungen, keinen Seniorenkreis, kein Gebetsfrühstück. All das sind sinnvolle Dinge – sie ordnen unser Gemeindeleben oder sind ein Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft. Aber sie sind nicht Kern der Kirche.

Weniger Strukturen

Wir dürfen unterscheiden zwischen der Kirche als Institution und der unsichtbaren Kirche als geistliche Größe. Es ist die Kirche von Jesus Christus. Die Strukturen, Bürokratien und Hierarchien haben wir Menschen unserer Gemeinschaft gegeben, um uns zu ordnen. Doch in diesen Ämtern und Funktionen wirkt letztendlich Gott selbst. Der Heilige Geist ist sozusagen das kritische Prinzip, das die Amtswirklichkeit begrenzt und – wenn es sein muss – außer Kraft setzt.

Die Strukturen sind mit der Kirche gewachsen. Es ist logisch: Je mehr Menschen zu einer Gemeinschaft dazugehören, umso mehr braucht es Regeln und Ordnungen. Dann genügt ein Wohnhaus nicht mehr als Treffpunkt und die Ausübung der Dienste kann so unübersichtlich werden, dass es sehr klug ist, hauptberuflich jemanden für den Dienst in der Kirche anzustellen. Doch wenn wir der Tatsache ins Auge sehen, dass unsere Gemeinschaft nicht größer, sondern kleiner wird, müssen wir die Strukturen wieder zurückschrauben.

Das bedeutet, den kleinen Gemeinschaften mehr Selbstständigkeit zu geben und die bisher große Institution Kirche kleiner werden zu lassen. Anstatt Einzelgemeinden zu Region-Gemeinden zusammenzufassen, sollte die einzelne Gemeinschaft befähigt werden, auch ohne Hauptamtlichen eine eigenständige Gemeinde sein zu können.

Die Ordination

Dabei wird immer wieder angemerkt, dass für die Auslegung der biblischen Texte und die Verwaltung der Sakramente ein theologisches Studium notwendig sei, damit dies „ordnungsgemäß und rein“ geschehen kann (vgl. Confessio Augustana, Artikel 7). Doch wieso ist ausgerechnet ein universitäres Theologie-Studium der Maßstab dieser Ordnungsgemäßheit? Die Regelungen in den einzelnen Landeskirchen sind unterschiedlich, inwiefern auch zum Beispiel Gemeindepädagoginnen und Prädikanten ordiniert werden können oder ob sie nur (eine Zeit lang) „beauftragt“ sind. Hier zeigt sich eine gewisse Geringschätzung der entsprechenden (durchaus theologischen!) Ausbildung, die wiederum den Menschen im Pfarramt einen priesterähnlichen Status gibt.

„Immer weniger Menschen wollen kirchlich ‚versorgt‘ werden, sie wollen nicht nur mitgestalten oder mitmachen, sie wollen gestalten und machen. Deshalb werden sich die Rollen und die Aufgaben der Hauptamtlichen gravierend verändern (müssen)“, schreibt Diakon Ralph Fischer. Es braucht keine Pfarrer, die die Gemeinden „versorgen“ mit ihrem Predigtdienst und der Sakramentsverwaltung. Es braucht gut ausgebildete Hauptamtliche, die Ehrenamtliche befähigen, Kirche auch allein zu gestalten. Wer so angeleitet und begleitet wird, kann auch ordiniert, also mit dem Verkündigungsdienst beauftragt werden.

Wie kommen wir dahin?

„Die Ehrenamtlichen kommen in der strategischen Planung immer noch zu kurz. Ich bin der Meinung, dass wir in unserem Veränderungsprozess die Ehrenamtlichen noch mehr einbeziehen müssen. Wo werden sie mit hineingenommen? Natürlich geht es nicht darum, ihnen noch mehr Arbeit aufzubürden, sondern vor allem um die Perspektive. Bitte lassen Sie uns die Ehrenamtlichen viel mehr in den Blick nehmen!“, meint Prisca Steeb auf der Synode der Württembergischen Landeskirche. Ja, wir brauchen als Ehrenamtliche, als Ortsgemeinden das Zugeständnis, vollständig Kirche zu sein – auch ohne Pfarrer. Wir brauchen mehr Begleitung und Förderung von Ehrenamtlichen, die die Menschen und ihre Potenziale sehen – nicht nur die Aufgaben.

Dabei ist klar: Funktionierende Gemeinden nur mit Ehrenamtlichen werden wir nicht von heute auf morgen haben. Doch wir müssen und werden uns verändern. Diese Veränderung geschieht nicht nur durch Strukturreformen „von oben“, sie muss auch „unten“ in den Ortsgemeinden beginnen. Bei jedem Einzelnen: Bei der Pfarrerin und beim Diakon genauso wie bei der ehrenamtlichen Jugendleiterin und dem Kirchvorsteher. Denn wir alle sind die Kirche.

 

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Missionarische Chance oder ethische Herausforderung?

Anna Maria Gerlach

Als Fachfrau für das Themenfeld „Kirche und Medien“ begleitete Johanna Haberer das Projekt „Multimediale Kirche“. Im Interview spricht sie über digitale Gebetswände, Datenkraken und die Verantwortung der Kirche.

 

Das Handbuch „Multimediale Kirche“ zeigt Möglichkeiten auf, wie Kirchengebäude multimedial ausgestattet werden können. Dies soll zeitgemäße Formen bieten, den Glauben zu kommunizieren und Kirchenräume zu erschließen. Es ist eine Veröffentlichung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), die während des Projekts von verschiedenen Partnern bergleitet und unterstützt wurde.

Johanna Haberer ist Professorin des Studiengangs „Medien – Ethik – Religion“ an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie begleitete das Projekt aus praktisch-theologischer Perspektive und entwickelte gemeinsam mit Studierenden Ideen für zwei Erprobungskirchen.

 

Worum geht es beim Projekt „Multimediale Kirche“?

Es geht darum, dass man die digitale Technologie und alles, was man an Wunderwerken damit machen kann, nutzt, um Kirchenräume sprechen zu lassen. Es gibt die unterschiedlichsten Möglichkeiten, um sie verständlicher zu machen und auch mit ihren Frömmigkeitspotenzialen zu erschließen. Es gibt die einfache Hilfsmittel-Funktion, indem man beispielsweise kleine Laptops als Kirchengesangbücher installiert, wo man die Textgröße einstellen kann. Dann gibt es die Möglichkeit der Raumerschließung: Audiofiles oder Videofiles erklären bestimmte Symbole in der Kirche.

Haben Sie eine bestimmte Zielgruppe vor Augen?

Wir haben zwei Versuche gemacht: zum einen mit einer Dorfkirche, zum anderen mit einer klassischen Hochzeitskirche. Es ist eine völlig andere Sache, mit einer Kirche zu arbeiten, in der im Jahr 200 Hochzeiten stattfinden, als mit einer mecklenburgischen Dorfkirche. In die eine Kirche kommen die Leute von außen, um genau in dieser Kirche zu heiraten. Im mecklenburgischen Dorf kommen im Sommer vielleicht ein paar Radler vorbei und wollen einfach nur, dass diese Kirche offen ist, und sich ein bisschen über die Gegend erkundigen.

Wie kann man auf diese unterschiedlichen Kirchen eingehen?

Man kann mit dem Kirchenraum Öffentlichkeitsarbeit für die Gemeinden machen. Zum Beispiel könnten in der Hochzeitskirche Paare, die sich dort trauen lassen, aus der Kirche ihre Fotos verschicken. In der Dorfkirche lässt man sich Geschichten erzählen, wie die ersten Kirchengemeinden gegründet wurden usw. Dabei braucht man dann auch kein Personal, weil man Kirchenführer mit Audio-Guides zur Verfügung stellen kann.

Und wie könnte man damit Gemeindearbeit machen?

Die Konfirmanden könnten sich auf diese Weise mit kleinen Filmen die Geschichte der eigenen Gemeinde erschließen. Oder die Kinder des Kindergottesdienstes könnten ihre Gebete online stellen: auf größeren Wänden in der Kirche, wo man früher analoge Gebetswände hatte. Man kann auch etwas ganz Einfaches machen: zum Beispiel die Kirche als Kinoraum nutzen. Hinterher kann man dann über die Filme, deren Wertorientierung und religiöse Grundierung sprechen. Es gibt eine ungeheure Fülle an Möglichkeiten, wie man mit dieser Technik Gemeindeaufbau betreiben kann.

Wie können Kirchengemeinden ein solches Projekt umsetzen?

Es gibt eine Webseite dazu und unser Büchlein – das ist so eine Art Handbuch der Anregungen. Dazu braucht man aber erst einmal Geld. Ich nehme an, so zwischen 5.000 Euro und 20.000 Euro muss man aufbringen. Und jede Gemeinde müsste sich ein eigenes Konzept überlegen. Außerdem braucht man jemanden, der die Technik wartet. Sie darf einem nicht im Wege sein und sie darf auch nicht in der Kirche verrotten, sondern man muss sie auch bespielen.

Sind digitale Medien in der Kirche gemeinschaftsstiftend oder gemeinschaftshinderlich?

Das kommt darauf an. Diese Technologie ist neutral – ein Spielzeug. Man kann sie auch falsch benutzen, indem man zum Beispiel übertechnisiert. Oder indem man die Leute nicht in die Kirche hineinführt, sondern hinaus. Was ich toll finde, ist aber, dass man generationenübergreifende Gemeindeaufbau-Projekte daraus machen könnte: Die jungen Leute bringen das technische Know-how ein und die älteren Leute bringen zum Beispiel das geschichtliche Wissen mit.

Ist im digitalen Lebensraum auch die Begegnung von Mensch und Gott möglich?

Das Problem am Internet ist, dass es eher schwache Beziehungen generiert und flüchtige Kontakte auslöst. Natürlich ist Gott so frei, jedem zu begegnen, wann und wie er will. Ich glaube aber, dass eine tiefe religiöse Erfahrung mehr Aufmerksamkeit braucht: viel Übung, tiefe Beziehungen zu anderen Menschen, konzentrierte Gespräche. Und das Netz ist eigentlich nicht der Ort der ungeteilten Aufmerksamkeit. Insofern würde ich sagen, man kann da vieles anbahnen, aber für eine wirkliche stabile, intensive Gotteserfahrung ist das Netz nicht prädestiniert.

Hat die Kirche eine besondere Verantwortung in der digitalen Welt?

Ich finde: Ja! Mit der Datensicherheit geht es los, zum Beispiel in Beratungsinstitutionen, bis hin zum Datenschutz der Mitarbeitenden und zu vorbildhafter Kommunikation mit den Gemeindegliedern. Da kann die Kirche exemplarisch etwas vormachen. Und dann muss die Kirche als theologische, geistliche und ethische Agentur in der Gesellschaft auch kommentieren, was diese neue Technologie mit uns als Menschen macht – mit unserer Kommunikation, unseren Biografien und unseren Gesellschaften.

Entstehen denn neue Fragestellungen, die es vorher so nicht gab?

Ja. Wir haben eine Technologie, die behauptet: „Ich weiß ganz genau, was du als nächstes machst!“ Was bedeutet unter diesen Bedingungen die Freiheit eines Menschen? Wie kann man dann Freiheit leben? Oder wir kommen irgendwann in die Situation, dass Krankenversicherungen Daten sammeln und auf dieser Grundlage entscheiden: „Den Physiotherapeuten zahlen wir nicht, weil du selbst zu wenig für deine Gesundheit getan hast.“ Man kann bei dieser gnadenlosen Vermessung auch das Wort Gnade wieder neu buchstabieren und verständlich machen. Denn da werden Menschen normiert. Das können wir als Kirchen nicht mitmachen!

Was sollten wir stattdessen tun?

Durch diese Vermessung bekommen Firmen wie Google, Amazon und Facebook einen ungeheuren Einfluss auf die einzelnen Biografien bzw. auch auf politische Systeme. Neben diesen großen Datenkraken sind die Kirchen ebenso globale Player. Das heißt, sie können auch einen Widerstand leisten. Ich habe nichts gegen diese Technologie – ich sehe ihre Schönheit und ich sehe ihre Möglichkeiten. Aber die Kirchen müssten international hier die Machtfrage stellen: Wem gehören die Daten? Und wer bestimmt über die Biografien der Menschen? Da müssen die Kirchen Einhalt gebieten.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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Kreuz, nein danke?

Nathanael Ullmann

Wer mein Bürozimmer betritt, der sieht es in der Regel sofort: In leuchtenden Farben prangt ein Kreuz an der Wand. Das Gemälde befindet sich in bester Gesellschaft: Ihm gegenüber hängen zwei Sprüche aus der Theaterwelt und eine Leinwand mit Bioshock-Motiv; direkt neben dem Kreuz findet sich ein Plakat, das mir einmal ein Künstler während meiner Zeit beim Radio geschenkt hat. In dieser Kombination macht das Kreuz für mich Sinn. Die Zimmerwände zeigen, wer ich bin: Theatermacher, Spiele-Nerd, Journalist – und Christ.

Bekenntnis auf der Brust

Etwas anders verstehe ich das Kreuz, das ich mir (fast) jeden Morgen um den Hals hänge. Es fungiert für mich mehr als ein Bekenntnis: „Hey, hier steht Christus drauf und ist (hoffentlich) auch ein wenig Christus drin.“ Ich verstehe es als eine Art Erkennungszeichen. Außerdem zeigt mir meine Kreuzkette noch etwas Anderes: Ich habe mich mit meiner Taufe zu einem Leben mit Jesus Christus verpflichtet. Die Kette ist für mich so etwas wie ein Brandmal – nur weniger schmerzhaft und definitiv hübscher. Jeden Morgen aufs Neue mache ich mir bewusst, dass ich ein Teil der christlichen Gemeinde bin, mit allem, was dazugehört. Das Ritual des Kette-Anziehens macht aus der Entscheidung mit Gott zu gehen, immer wieder eine konkrete Tat. Und das hilft mir ungemein.

Setze dein Kreuz mit Bedacht

Als Erkennungszeichen und Symbol des gelebten Glaubens finde ich das Kreuz legitim. Jede Privatperson, Initiative und Vereinigung, die sich bewusst und in Absprache mit allen Beteiligten dafür entscheidet, deswegen auf das Kreuz zurückzugreifen, kann ich nur beglückwünschen. Und trotz allem (oder gerade deswegen) habe ich den Beschluss des bayerischen Landeskabinetts, dass in allen Behörden der Staatsverwaltung Kreuze im Eingangsbereich hängen müssen, nicht gefeiert. Denn hier liegt eine gänzlich andere Geisteshaltung vor.

Revier markieren

Wenn Ministerpräsident Markus Söder behauptet, das Kreuz solle kein religiöses Symbol des Christentums sein, sondern ein „Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung“, wird klar, was hier Sache ist: Von der rettenden Botschaft des Evangeliums ist dieser Schachzug so weit entfernt wie ein Apple-Produkt vom Ein-Euro-Laden. An die Stelle der guten Nachricht tritt ein leerer Traditionsbegriff. Das Glaubensbekenntnis verkommt von einem „Ich bin für euch gestorben“ zu einem „Halt Stopp, das Kreuz bleibt, wo es ist (weil das schon immer so war)“. Es ist, als wolle die CSU hier schlichtweg ihr Revier markieren. Nur, dass sie nicht das Beinchen hebt, sondern ein Symbol an die Wand tackert. Es wirkt wie eine Machtgeste: „Wir waren zuerst hier!“ Zudem werden hier Menschen dazu gezwungen, zu etwas zu stehen, mit dem sie sich unter Umständen gar nicht identifizieren.

Und das ist noch eine freundliche Auslegung dieses Spektakels. Viel eher ließe sich dahinter schnöder Stimmenfang vermuten. Deutlich effektiver wäre es allerdings, den Inhalt neu zu überdenken, statt die Verpackung aufzumotzen. Oder, anders gesagt: Es wäre besser, das zu leben, was das Kreuz bedeutet, statt es als Kulturobjekt zu vereinnahmen.

Was ich hier am Beispiel der Amtskreuze durchexerziert habe, gilt nebenbei für alle Kreuze aus reiner Tradition. Wer dieses Symbol benutzt, muss auch zu der christlichen Bedeutung stehen. Und im Bestfall hinterfragt er immer wieder aufs Neue, ob er das noch kann. Insofern: Kreuz, ja bitte! Aber bitte aus Überzeugung.

Lass dich nicht gehen!

Tobias Hambuch

 

Flavio Simonetti ist Fitness-Blogger. Sein Fokus liegt auf Gewicht, Bizepsgröße und Massephasen – manchmal regeneriert er auch. Doch zu viel Leerlauf kann er sich nicht erlauben, denn er ist auf neue Klicks angewiesen. Und das Streben nach Reichweite ist nicht sein einziger Kampf.

Ein recht unscheinbarer Raum. Darin eine gemütlich aussehende graue Couch, ein Tisch mit Sitzschalen-Stühlen. Ein paar Regale. Eine Büro-Ecke. Flipchart. Kartons. Und ein großes rotes Poster vor einer Sperrholzwand. Darauf prankt der Mann, der hier bis zu dreimal in der Woche ein neues Video dreht, und es dann bei YouTube mit seinen fast 250.000 Abonnenten teilt: Flavio Simonetti. Betritt er die Bildfläche, gibt es klare Ansagen zu hören wie »Achte auf deinen Körperfettanteil, dein Krafttraining und deine Ernährung – sie haben Auswirkungen auf deinen Testosteron-Wert!« oder „Diese Kohlenhydrate sind die besten Quellen für deinen Muskelaufbau!“ Manchmal ist auch Christian mit dabei. Der war sogar schon mal Deutscher Meister im Natural-Bodybuilding – also im Muskelmasseaufbau ohne Doping. Dann stehen zwei Typen vor der Kamera, deren Oberarme Eindruck hinterlassen und deren Shirts dem Platzen nahe scheinen. Und reden über Einfach- und Mehrfachzucker. Warum das alles? Und warum dreht sich hier eigentlich alles nur um den Körper? Wen bedient Flavio eigentlich?

Neue Formate, neue Follower?

„Die, die seit Jahren ins Fitnessstudio rennen. Die, die sich abquälen und irgendwann frustriert merken: Es hat sich nichts getan.“ Sie hat Flavio im Blick. Weil er ihnen Erfolgserlebnisse schenken will, die er am eigenen Körper erleben durfte. Er will ihr Motivator sein. Und das hat er zu seinem Geschäft gemacht. Der Deutsch-Italiener hat die Trainings-App „Coach Carter“ entwickelt, das Fitnessprogramm „Muskelakademie“ erarbeitet und eine eigene Bekleidungsmarke am Start: „Natural Athlet“. Gleichzeitig will er seine eigene Fitness auf einem hohen Level halten. Und hat mit zwei kleinen Kindern zudem ein prall gefülltes Familien-Leben. Sein Aufruf: »Hol das Beste aus dir raus.« Dazu will er niemanden zwingen. Aber für ihn steckt dahinter auch die biblische Aufforderung, den „Tempel des Heiligen Geistes“ zu pflegen und den eigenen Körper wertzuschätzen. Flavio ist Christ. Auf seinem Insta-Account ist vor allem anderen „God First“ zu lesen. Und doch sagt er: „Meine erste Frage ist: Wie kann ich für das Publikum attraktiv bleiben? Da kann ich nicht jedes Mal über Gott reden. Die Reichweite würde zusammenfallen. Ich will für die Welt interessant bleiben.“

Der „Retter der Dünnen“

Flavios Beruf ist ein Kampf um Klicks. Nur die sichern ihm und seinen Mitarbeitern eine stabile Finanzlage. Das macht auch Druck. „Da muss ich manchmal aufpassen, dass mich das nicht auffrisst. Ich kämpfe immer wieder mit mir selbst und frage mich: Ist dieses Format noch interessant? Was kann ich neu machen? Wie bleibe ich authentisch? Und wenn du dann was startest, über das du dir lang Gedanken gemacht hast, und es trotzdem nicht ankommt, ist das total frustrierend. Dann sehne ich mich manchmal danach, Zahnarzt zu sein und immer wieder den gleichen Prozess wiederholen zu können.“
Für mehr Reichweite polarisiert der Blogger auch gerne. Er nennt sich „Retter der Dünnen“ oder startet eine „Lauch-Challenge“ mit Jungs, die mehr Muskeln haben wollen. Natürlich kommt da auch Kritik ins Haus. Wie er als Christ einen so starken Fokus auf den Körper legen könne?

Weniger Körperkult, mehr Selbstannahme

Flavio setzt zwar provokante Titel, aber entscheidend ist für ihn, dass er jeden einzelnen Teilnehmer seiner Programme wertschätzt, geduldig begleitet und motiviert. Einst ging er als Jugendlicher selbst ins Fitnessstudio, um sich besser zu fühlen. Stärker. Entschlossener. Geliebter. „Zwischen 15 und 24 Jahren war ich auf der Suche. Ich wollte herausfinden, was ich überhaupt kann. Frauen, Geld und Fitness dominierten mein Leben.“ Deshalb versteht er die Leute, die Sport und Muskeln gebrauchen, um sich Selbstvertrauen zu holen. „Auch ich habe damals nicht an mich geglaubt und wusste nicht, wer ich bin. Ich kenne die große Challenge, zu trainieren, ohne mich darüber zu definieren. Das ist ein Kampf. Ich will Gott an die erste Stelle setzen. Nur bei ihm finde ich wirklich Identität.“

Berufen

Jungen Menschen zuzusprechen, dass sie aus einem Grund hier sind und nicht einfach so vor sich hin leben sollten – das sieht Flavio als Teil seiner Berufung an. Und er erreicht diese Menschen auf seine eigene Art und Weise. Dahinter steckt seine Geschichte. Flavio hätte den Begriff „Berufung“ lange nicht in den Mund genommen, lenkte sich ab, wurde immer unzufriedener, fühlte sich leer. Mit 24 Jahren nahm er an einem illegalen Autorennen teil, das frontal vor einem Baum endete. Ein vorbeifahrender Autofahrer war sich sicher: Der ist tot! Doch Flavio lebte und wusste: Es muss sich was ändern. In der Rückschau meint er: „Ich brauchte diese Neujustierung. Da war die bohrende Frage, auf die ich endlich eine Antwort finden wollte: Was will ich wirklich? Ich habe plötzlich gespürt, dass Gott mein Leben lenkt und ich nicht mehr an ihm vorbeileben will. Bislang hatte ich alles auf eigene Faust erkundet und war damit nicht weit gekommen.“ Dieser biographische Wendepunkt scheint kaum übertragbar. Wie können dann andere Menschen ihre Berufung finden? Flavio macht klar: „Auch ich bin immer wieder auf der Suche, muss prüfen, ob ich auf dem richtigen Weg bin, brauche Leute, die mir ins Leben reinreden.“ Er gibt den Tipp: Manchmal sind wir viel zu abgelenkt und brauchen einfach mal Ruhe, Zeiten fern vom Handy, fern vom Unterhalten-Werden, offline. Um dort die eigene Kreativität und Leidenschaft zu entdecken. Zu erkennen, wie man tickt. „Dann besteht auch eine geringere Gefahr, nur von anderen zu kopieren.“ Aber kann Berufung nicht auch manchmal wie eine verheißungsvolle Illusion wirken? Flavio hat genug Rückschläge erlebt und meint: „Gott kann auch da wirken und uns schleifen, wo wir uns im Beruf gerade durchschleppen und keinen Spaß haben.“

Der Bequemlichkeit den Kampf ansagen

Vor einigen Tagen ist er aus Italien zurückgekehrt. Pizza, Pasta und Eis standen auf der Speisekarte, Flavio hat ganze sechs Wochen nicht trainiert. Mit schlechtem Gewissen? „Nein, im Urlaub habe ich das Ziel, zu genießen. Tief im Innern könnte ich jetzt auch ohne Training weiterleben. Aber jetzt beginnt wieder der Kampf mit mir selbst. Ich merke, dass ich nicht auf jedes meiner Gefühle hören sollte. Denn ich habe auch oft keine Lust auf Beten oder keinen Bock auf Bibellesen. Aber davon will ich mich nicht leiten lassen.“
Heute schauen tausende Menschen seine Videos an. Und Flavio will ihnen die Bereitschaft vermitteln, an sich zu arbeiten – „an den Dingen, die andere davon abhalten, dich als Vorbild zu sehen. Am Ende geht es nicht darum, gut dazustehen, sondern deine Talente wachzurufen und dadurch auf Gott zu zeigen, der sie dir gegeben hat.“ Flavio wünscht sich Menschen, die über sich hinauswachsen. Und das muss überhaupt nichts mit dem eigenen Körper zu tun haben. „Auch eine schüchterne Person, die vor einer großen Gruppe von Leuten redet, wächst über sich hinaus.“

 

 

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