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„Ich darf meinen Platz einnehmen“

Christine Kernstock

Wer Neues ausprobiert, kommt oft an seine Grenzen. Solche Herausforderungen kosten Kraft, sind aber auch eine Chance, Gott völlig neu wahrzunehmen. Diese Erfahrung machte Christine Kernstock. Jesus, ich möchte etwas mit dir erleben. Zeig mir doch bitte, wenn du etwas Besonderes mit mir vorhast.“ Das war mein, zugegeben etwas abgedroschen klingendes, aber durchaus ernst gemeintes Standardgebet vor jedem Studiensemester. Nur einen Monat später hing ich an einem Drahtseil über einer Schlucht und schwor mir, so etwas Leichtsinniges nie, nie wieder zu beten. Aber der Reihe nach:

Grenzerfahrung statt Wanderurlaub

Meine Bibelschule bot einen viertägigen Aktivurlaub in Österreich an. Ich fahre nicht gerne mit Fremden weg, weil ich nicht gut im Smalltalk bin, aber Schweigen auch schlecht aushalten kann. Und ich schlafe nicht gerne in Mehrbettzimmern. Dennoch ließ mich das Gefühl nicht los, an dieser Fahrt teilnehmen zu sollen. Eine Woche vor dem Start, und damit in zeitlich sicherem Abstand hinter der Anmeldefrist, fragte ich dann doch beim zuständigen Dozenten nach. Er strahlte. Es wäre noch genau ein Platz frei, als hätte dieser auf mich gewartet. Ach. Wie sich herausstellte, ging es bei dem Urlaub gar nicht um sportliches Wandern, wie ich still angenommen hatte. Es ging darum, Gott in Grenzerfahrungen neu wahrzunehmen: Klettersteig, Aquädukt Jumping, Paragliding, eine Höhlentour und Canyoning (das ist sowas wie Wildwasserrafting, nur ohne Boot). Spätestens da war mir klar, dass Mehrbettzimmer und Smalltalk mein geringstes Problem werden würden.

Starr vor Angst

Unsere Schicksalsgemeinschaft bestand aus zwölf abenteuerlustigen Studierenden, einem Dozenten, einem Bergführer und mir. Allen war ziemlich schnell klar, dass das mit den Grenzerfahrungen ernst gemeint war. Irgendeiner heulte immer, meistens war ich es. Bereits am ersten Tag am Klettersteig betete ich, wie ich selten zuvor gebetet hatte. Darum, nicht abzustürzen, mich nicht zu blamieren und die Gruppe nicht aufzuhalten. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht irgendeine göttliche Offenbarung. Die Nähe Gottes in meiner Angst oder wenigstens ein wenig himmlischen Frieden. Doch als es vom Klettersteig an die Zip-Lines ging (das ist wie eine Tarzanbahn auf dem Spielplatz, nur hängt man an einem Seil im Klettergurt), verpasste ich bei der Landung den Felsen. Meine Beine waren zu kurz, ich kam nicht auf den Boden, fand keinen Halt und fuhr zurück über die Schlucht, wo ich schließlich hängen blieb. Ungefähr 30 Meter unter mir nichts als gähnende Leere. Ich war starr vor Angst und hilflos. Aber was am schlimmsten für mich war, war die scheinbar völlige Abwesenheit Gottes. Da war nichts. Kein Trost, kein Eingreifen. Ich hing über dem Abgrund und war völlig allein.

Nichts getan

Mir schoss durch den Kopf: „Wie immer. Wenn es schlimm wird, bist du nicht da. Was habe ich auch erwartet?“ Also griff ich nach dem Stahlseil über mir und zog mich selbst, Meter für Meter, zur nächsten Felswand, wo mir Kommilitonen von der Bahn halfen. Als ich ankam, war ich erschöpft. Enttäuscht. Müde. Ich betete an diesem Tag nicht mehr und auch nicht am nächsten. In der zweiten Nacht endlich brach es aus mir heraus und ich warf Gott meinen ganzen Schmerz an den Kopf. Ich hatte ihm vertraut, wie so oft. Und er hatte nichts getan. Nichts! Ich selbst war es gewesen und ich war es so leid. Die Frage, die Gott mir stellte, brachte mich (widerwillig) ins Nachdenken. „Was hättest du gebraucht, um dich sicher zu fühlen?“ Gute Frage. Wenn schon nicht göttliches Eingreifen, dann hätte ich mir wenigstens einen Menschen an meiner Seite gewünscht. Jemanden, der mich in meiner Angst nicht allein lässt. Mein nächster Gedanke war: „Du bist doch nicht allein. In der Gruppe sind viele wunderbare Menschen. Bitte doch das nächste Mal einfach jemanden um Hilfe, wenn du Angst hast.“ Ja, das klang einleuchtend. Aber es war das Letzte, was ich wollte. Ich möchte niemandem zur Last fallen. Und es ist bestimmt eine Last, sich am Berg nicht nur um sich selbst, sondern auch noch um einen anderen Menschen kümmern zu müssen.

Ein Ringen

Die nächsten beiden Tage waren ebenfalls vollgepackt mit Grenzerfahrungen, jedoch war keine so schlimm wie der Klettersteig. Zum Abschluss gab’s dann doch noch eine Wanderung, da das Aquädukt eingerüstet war und wir nicht herunterspringen durften. (Danke Jesus, geht doch.) Was sehr entspannt anfing, wurde einen Kilometer vor dem Gipfel zu meinem zweiten Albtraum. Nebel, schlüpfrige Steine, wieder Klettern, nur diesmal ohne Sicherung. Hoch kam ich noch, aber beim Abstieg setzte die Höhenangst wieder voll ein. Es war ein Ringen mit mir. Doch schließlich ging ich auf zwei Kommilitonen zu und bat sie, mir zu helfen. Was bedeutete: zurückzubleiben mit mir. Nicht ihr eigenes Tempo gehen zu können. Sie blieben. Allein ihre Anwesenheit half mir, mich weiter zu trauen. Sie zeigten mir ein paar Techniken und setzten mir sogar die Füße, wenn ich gar nicht weiterkam. Ich war unendlich dankbar und konnte, trotz Stress, das erste Mal seit Tagen wieder richtig herzlich lachen. Außerdem hießen beide Andreas, was sich als sehr praktisch herausstellte, weil ich nur einen Namen brüllen musste und gleich vier helfende Hände hatte. Ich habe viel über mich erfahren in diesen Tagen. Vor allem aber, dass ich nicht alles allein schaffen muss. Ich darf meinen Platz einnehmen, darf Hilfe anfragen und darf es riskieren, anderen zur Last zu fallen. Gott hat uns nicht umsonst in Gemeinschaft gestellt. Ich darf die Gaben und Kompetenzen anderer mitnutzen. Und ich durfte außerdem erfahren: Weder Schweigen noch Mehrbettzimmer bringen mich um.

 

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Gott kann mit unseren Zweifeln umgehen

Erika Weiss im Gespräch mit Elke Werner über die Jahreslosung 2020

Jahreslosungen sind oft trostreiche Zusprüche oder konkrete Aufforderungen. Bei der Jahreslosung 2020 ist das anders. Was war Ihre spontane Reaktion, als Sie die Jahreslosung zum ersten Mal hörten?

Ich war zuerst total überrascht! In dem Satz sind Aussage und Bitte enthalten. „Ich glaube“ – das ist die Aussage und „hilf meinem Unglauben“ – das spricht ja von dem Gegenteil. Dieser Zwiespalt ist sehr interessant. Der erklärt sich eigentlich nur durch die Geschichte, aus der die Jahreslosung stammt.

Was genau hat Sie da angesprochen?

Dazu muss man sich die Rahmengeschichte näher anschauen. Der Vater, dessen Sohn von einem Dämon besessen ist, geht voller Hoffnung zu Jesus. Doch der ist nicht da, er ist auf dem Berg der Verklärung. Die Jünger versuchen alles, was sie von Jesus gelernt haben – nichts funktioniert. Die Jünger beten und nichts passiert. Da wächst natürlich der Zweifel bei allen, ob Jesus wirklich helfen kann. Trotzdem geht der Vater auf Jesus zu und bittet um Hilfe. Somit knüpft er wieder an seinen Glauben an, auch wenn sein Unglaube durch den Frust gewachsen ist. Diese Spannung hat mich total angesprochen.

Wie erging es Ihnen, darüber ein Buch zu schreiben?

Ich persönlich bin keine Zweiflerin. Ich gehe fröhlich im Glauben auf Dinge zu. Wie geht es Menschen, die zweifeln?

Ich arbeite seit Jahren in der Seelsorge und sprach mit zweifelnden Menschen. In diese Empfindungen musste ich mich erstmal einfühlen. Ich las viele Geschichten in der Bibel über Menschen, die auch zweifelten. Da merkte ich, Zweifel gehören zum Glauben dazu. Es ist sogar ein Zeichen von Glauben, wenn man diese Spannung aushält: Ich glaube und trotzdem gibt es da noch Zweifel und Unglauben in meinem Leben.

Um den Vers richtig zu verstehen, müsste man ja zunächst klären, was „glauben“ heißt …

Das Wort „glauben“ wird bei uns im Deutschen sehr unterschiedlich genutzt. Wir sagen zum Beispiel: „Ich glaube, dass es morgen regnet.“ Oder in der Zeit der Abitur-Prüfungen habe ich gesehen, dass Eltern auf große Plakate schreiben „Wir glauben an dich!“, um die Abiturienten zu ermutigen. Das ist ein anderer Glaube als der an Gott.

Das griechische Wort pistis bedeutet „Vertrauen und Treue“ und hat nochmal eine andere Bedeutung als das lateinische Wort credo, welches „Herz schenken“ bedeutet. In verschiedenen Sprachen sucht man nach Möglichkeiten, das Phänomen „Ich mache mich bei Gott fest“ auszudrücken. Das hebräische Wort aman bedeutet „sich fest gründen“. Diese drei Arten, das Wort zu übersetzen, zeigen, welche Spannbreite da drin liegt.

Mögen Sie einen dieser drei Begriffe besonders gerne?

Der Begriff credo hat mich besonders angesprochen: Ich schenke Gott mein Herz. Ich möchte mein Leben, mein Innerstes Gott anvertrauen und sehe, ich brauche ein neues, lebendiges Herz, in dem Gott zu Hause ist. Mein persönlicher Glaube stützt sich auch viel auf Fakten und Tatsachen, z. B. archäologische Funde. Der Begriff pistis gefällt mir auch sehr. Kann ich in bestimmten Lebenssituationen Gott vertrauen, gerade wenn es hart wird; halte ich fest? Oder gehe ich eigene Wege? Der Glaube hat verschiedene Gesichter und Phasen in meinem Leben: Mal stehe ich auf festem Grund und habe das Gefühl, mein Herz ist ganz nah bei Gott. Und mal ist es ganz weit weg. Ich möchte mich auf die verschiedenen Phasen einlassen, dabei an Gott festhalten und ihm vertrauen, denn er ist an der Beziehung zu mir interessiert und hält an mir fest.

Unglaube entsteht ja auch, wenn wir uns zu viele Gedanken machen: ständig hinterfragen und zweifeln …

Ich glaube, es ist gar nicht schlecht zu hinterfragen. Im Gegenteil: Die Gefahr für den Glauben ist eher, wenn wir alles für wahr halten. Dieses Fragen und Hinterfragen zeigt, dass ich mehr wissen und erkennen will, dass ich tiefer gehen möchte. Wir brauchen einen begründeten und keinen übernommenen Glauben. Das heißt, Forschen und Dranbleiben gehört für mich zum Glauben dazu. Denn so kann ich noch mehr von Christus erkennen.

Wie können wir konstruktiv mit unserem Unglauben bzw. unseren Zweifeln umgehen?

Wir können es so wie der Vater in der biblischen Geschichte machen: Zu Jesus gehen, trotz unseres Unglaubens, und ihn um Hilfe bitten. Mit ihm über unsere Zweifel sprechen, damit kann er umgehen. Schon in den Psalmen lesen wir, wie ehrlich Menschen beteten. Im Zweifeln und auch Verzweifeln haben sie alles an Gott gerichtet und erlebten, dass Gott antwortet und da ist. So wie es in Hebräer 10,35 heißt: „Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.“

Sie bringen in Ihrem Buch viele Beispiele über Glaubenshelden, die durch schwere Zeiten gehen mussten. Wer ist ihr Glaubensvorbild?

Ganz viele Menschen. Ich liebe Biographien über Frauen. All diese Menschen gingen durch schwere Zeiten, da ist keiner dabei, der nur von strahlendem Sonnenschein umgeben war. Ich sage manchmal: „Nur beladene Schiffe haben Tiefgang“. Das ist ein Spruch, der sich in meinem Leben bewahrheitet hat. Da wo Gott uns Lasten auflegt, wird auch unser Tiefgang im Glauben gefördert. Der Glaube an den lebendigen Gott braucht diesen Tiefgang. Bei vielen Menschen sehe ich, dass sie gerade durch diese schweren Zeiten gereift und im Glauben gewachsen sind.

Wir brauchen ein festes Fundament, um zu glauben. Was gibt Ihnen Halt im Leben?

Jesu Tod und Auferstehung sind mein Fundament. Ich weiß, meine Schuld ist vergeben. Gott nimmt mich an und liebt mich, auch wenn es mir manchmal schwerfällt, mich selber zu lieben. Zu ihm kann ich kommen, so wie ich bin.

Als ich schwer an Krebs erkrankte, konnte ich nicht mehr in den Gottesdienst gehen oder verreisen. Ich konnte gar nicht mehr tun. Aber ich habe erlebt, dass Gott da war. Ich spürte seinen Trost. Gott ist allezeit bei mir: Das ist mein Fundament.

Wie haben Sie Gott in Krisen erlebt?

Ich habe ihn nicht so emotional erlebt mit einem Kribbeln im Bauch oder einem Gefühl, sondern als eine Kraftquelle. Eine Quelle, die mir innerlich Kraft gegeben hat. Sobald ich zu Gott schrie, auch manchmal voller Panik, wenn die nächste Chemo anstand oder ich Angst vor dem Tod hatte, durfte ich Gott als Kraftquelle erleben. Ich merkte, wie ich innerlich ruhig und getröstet wurde. Ich konnte wieder durchatmen. Ich persönlich darf erleben, wann immer ich zu Gott rufe: Er ist da.

Wie läuft der Prozess von Unglauben zu Glauben ab, geschieht es nacheinander oder nebeneinander?

Ich glaube, dass es um eine Umorientierung im Glauben geht: Wohin lenke ich meine Aufmerksamkeit, wenn es um den Sinn im Leben geht? Danach suchen wir alle. Ob wir ihn in Menschen oder Religionen suchen, diese Suche beschäftigt alle Menschen. Die Frage ist nur: Wie lenke ich meinen Glauben hin zum lebendigen Gott? Und dazu brauche ich die Bibel, wo Gott sich zeigt. Der Schritt vom Glauben an irgendetwas hin zum Glauben an den lebendigen Gott beginnt damit, dass ich ihn kennenlernen will und das kann ich, wenn ich die Bibel lese.

Was würden Sie jemandem raten, dem es schwerfällt zu glauben?

Ich würde ihm raten, im Kontakt mit anderen Christen zu sein. Menschen sind in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens an unterschiedlichen Punkten mit Gott unterwegs. Wenn ich dann miterlebe, wie sie Gott erleben, kann ich mich davon ermutigen lassen. Denn wenn die das erleben, dann kann und will ich das auch erleben.

Auch die Jünger zweifelten und waren nicht von Anfang an die Glaubenshelden. Aber trotzdem hielten sie an Jesus fest. Daraus können wir lernen: Wir sollten bei Jesus bleiben, auch wenn wir vielleicht nicht selber großartige Erfahrungen gemacht haben. Bei Jesus bleiben, das heißt auch, bei seinen Leuten bleiben. Denn bei und in denen lebt Jesus.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

 

Dieses Interview erschien im Magazin LebensLauf. Jetzt kostenlos testen: www.lebenslauf-magazin.net

Das schwarze Schaf

Lydia Rieß

Biblische Verheißung und Realität – Wo beide weit auseinanderklaffen, gerät die Hoffnung unter Druck. Lydia Rieß arbeitet sich durch den Schmerz hindurch zum Licht.

Seit einer Weile sitze ich schon an meinem Schreibtisch und versuche, eine Predigt für Sonntag zu schreiben. Mein Text ist Psalm 23, dieser Psalm, der seit Jahrhunderten Menschen so große Hoffnung gibt. Ich fühle mich gerade eher von ihm verspottet. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Ich spüre den Mangel deutlich. Meine Mutter hat kürzlich die Diagnose Brustkrebs bekommen – etwas, woran die Mutter einer Freundin vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist. Jetzt kämpft sie sich durch die Chemo. „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ Ich bin alles andere als satt und erfrischt. Gerade erlebe ich, wie alle um mich herum heiraten. Ich muss dagegen die Zurückweisung eines Mannes verarbeiten, der mir sehr wichtig war. Es ist nicht nur die zweite innerhalb weniger Monate und die was-weiß-ich-wievielte in den letzten Jahren. Diesmal habe ich dadurch auch eine wertvolle Freundschaft verloren. Meine Schuld. Ich hätte besser damit umgehen müssen.

„Du bereitest vor mir einen Tisch.“ Der randvolle Becher enthält gerade nur ein paar Tropfen. Das Studium fordert mehr, als ich geben kann. Und wozu? Der Beruf, auf den mich alle zu drängen scheinen, passt immer weniger zu mir. Mein Traumjob ist unerreichbar. Mehr noch, ich erlebe, wie jemand anderes da erfolgreich ist, wo ich ständig nur scheitere. Wie Menschen, die mir Unterstützung zugesagt haben, mich im Stich lassen. „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.“ Eine Erkrankung, die vor einigen Jahren eine unangenehme OP nach sich zog, hat sich wieder bei mir zurückgemeldet. Noch ein Krankenhausaufenthalt? Hatte ich davon nicht schon genug? Ich bin ein Blatt im Wind, heimatlos und ohne Sicherheiten. Den guten Hirten kann ich momentan nicht sehen. Und trotzdem soll ich nächsten Sonntag von ihm predigen. Soll erzählen, wie sehr Gott uns liebt und versorgt. Eine Liebe und Fürsorge, die ich nicht erlebe. Viel zu lange schon.

Bin ich das schwarze Schaf, das zurückgelassen wurde?

UNVOLLSTÄNDIG

In der Gemeinde treten mir bei Liedern oft Tränen in die Augen. Nicht vor Rührung. Sondern weil sie von Dingen erzählen, die ich infrage stelle. Ich kann sie nicht mitsingen, ohne mich wie eine Heuchlerin zu fühlen. Ich kann Gott gerade nicht „Vater“ nennen. Mir fällt es schwer zu beten. Und wenn ich doch bete, dann ist „Warum?“ eine sehr häufige Frage. Ich will wissen, was das alles soll. Warum manche Dinge sich einfach nicht verändern. Ob es Bedeutung hat. Es sind diese Momente, in denen Glaube und Leben nicht mehr zusammenzupassen scheinen. In denen der Glaube eher den Gott preist, den man sich wünscht, als den, den man erlebt. Ich wünsche mir das eine Bibelwort, das die Sonne wieder aufgehen lässt. Die eine Antwort, die die Wolken beiseiteschiebt. Das eine Erlebnis, das den Nebel auflöst und mich erkennen lässt, dass Gott die ganze Zeit über da war. Gerade in diesen Zeiten wünsche ich mir am meisten, Gottes Liebe zu spüren. Stattdessen spüre ich gerade dort am tiefsten die Sehnsucht nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Sinn und Wert und erahne, dass sie in diesem Leben niemals ganz erfüllt werden wird. Ich spüre meine eigene Unvollständigkeit.

KEINE ERKLÄRUNG

Meine Bachelorarbeit wenig später schreibe ich über das Buch Hiob. Hiob erlebt Leid – mehr noch, sein ganzes Leben zerbricht. Es bleibt nichts mehr übrig. Von Zukunftsperspektiven ganz zu schweigen. Vorher erlebte er, wie Gott ihn segnet und ihm nicht nur alles gibt, was er zum Leben braucht, sondern noch viel mehr darüber hinaus. Es ist leicht, Gott in solchen Phasen zu vertrauen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Und dann bricht alles zusammen. Ohne Erklärung. Manche Theologen sagen, die Szenen im Himmel, in denen Gott mit dem Satan um Hiobs Glauben „wettet“, seien später hinzugefügt worden. Von Leuten, denen dieses „Warum?“ einfach zu groß war und die wenigstens den Ansatz einer Antwort geben wollten. Denn Hiob erhält keine. Etwa vierzig Kapitel lang sitzt er vor Gott, klagt, fragt und darf sich von seinen Freunden auch noch Vorwürfe darüber anhören, dass doch alles seine eigene Schuld ist. Erst ganz am Ende meldet sich Gott selbst zu Wort. Seine Worte sind harsch – und gleichzeitig leuchten sie ein, so unangenehm sie auch sind. Gott erklärt Hiob, dass er kein Recht auf eine Antwort hat. Kein Recht auf eine Erklärung seines Leides. Weil Gott der Schöpfer aller Dinge ist, Herr über die ganze Welt und damit der Einzige, der einen Überblick über alle Geschehnisse und Zusammenhänge hat – und Hiob nicht. Irgendwie verstehe ich es. Gott kann mir nicht die Gesamtzusammenhänge der Welt erklären. Und wenn ich anerkenne, dass Gott größer ist als ich, muss ich auch anerkennen, dass es Dinge gibt, die ich nicht verstehen kann. Trotzdem ist es, milde ausgedrückt, eine sehr unbefriedigende Antwort, wenn man gerade seinen gesamten Besitz, alle Kinder, die gesellschaftliche Stellung und die eigene Gesundheit verloren hat.

GOTT – FREUND ODER FEIND?

Denn das Leben tut trotzdem weh. Kann ich hier noch nachfolgen? Soll ich die Phasen, in denen das Leben schwer ist, einfach aussitzen und mich „in Gottes Hände fallen lassen“? Hoffen, dass Gott mich irgendwie hindurchträgt, meinen Glauben bewahrt und mich schon wieder anspricht, wenn die Zeit „erfüllt“ ist? In jedem Leben gibt es Dinge, die begleiten uns von Anfang bis Ende, ohne jemals besser zu werden, ohne jemals für uns Sinn zu machen. Soll ich sie ignorieren? Gott dort ausklammern?

Nein. Gerade dort nehme ich Gott mit hinein. Auch hier kann ich von Hiob lernen. Auch er hat Wunden, die bleiben. Am Ende bekommt er von Gott zwar alles zurück und hat sogar wieder Kinder – aber die verstorbenen bleiben tot. Mit ihrem Verlust muss er leben, ohne eine Antwort auf seine Klage. In meiner Seelsorgeausbildung habe ich gelernt, dass Klage etwas Gutes ist. Weil sie bedeutet, dass ich mit Gott im Gespräch bleibe. In der Klage darf ich ehrlich sein vor Gott, wie ich es auch vor einem guten Freund wäre. Hier kann ich meine Fragen formulieren, meine Gedanken ordnen und Erwartungen aussprechen. Ich habe Gott sogar schon angeschrien. Und erlebt, dass er das aushält. Klage ist wichtig für meine Beziehung zu Gott. Denn da, wo ich Gott anschweige, erkläre ich ihn zum Feind. In dem Moment, wenn ich ihn doch am meisten als Freund brauche. Es ist ein Gedanke, der mir in meinen dunkelsten Stunden nicht hilft, denn irgendwen muss ich doch verantwortlich machen. Aber: Was nützt es mir, Gott und dem Leben zu grollen? Was ändert sich dadurch? Und kann ich Gott wirklich nur dann vertrauen, wenn ich ihn nachvollziehen kann? Was ist das für ein Gott, auf den ich nicht hoffen kann, solange ich ihn nicht verstehe?

MIT GOTT IM TAL

Ich erlebe, wie Gott mit mir im Gespräch bleibt. Nicht täglich, aber manchmal. Keine Antworten auf meine Fragen. Sondern das, was ich in dem Moment brauche: „Ich bin da. Ich sehe dich. Dein Leben hat Wert. Auch da, wo du dir verzweifelt wünschst, es würde anders verlaufen.“ Einen Vers habe ich bei meiner Predigtvorbereitung noch ausgelassen. „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal …“ Erst beim zweiten Lesen erkenne ich: Es ist keine Bitte, vor dem finsteren Tal bewahrt zu werden. Es ist die Bitte an Gott, dort mitzugehen. Sich mit mir gemeinsam durchzukämpfen zu meiner unerfüllten Hoffnung. Ich erinnere mich an etwas, das ich zu oft vergesse: Gott weiß, wie sich Leid anfühlt. Nicht nur am Kreuz hat Jesus gelitten. Sein Leben lang hat er Ablehnung, Mangel und Spott erlebt. Und auch Einsamkeit. Wie oft haben seine engsten Freunde ihn nicht verstanden? Seine eigenen Eltern? Jesus war Mensch. Diese Dinge haben ihn getroffen, wie sie jeden von uns treffen würden. Und glaube ich wirklich, es lässt Gott unberührt, wenn Menschen sich von ihm abwenden, nur weil er Gott ist und alles weiß und kann? Wenn seine Liebe echt ist, enthält sie auch echten Schmerz. Dort, wo Gott mir die finsteren Täler meines Lebens zumutet, aus welchen Gründen auch immer, tut er es nicht von hoch oben herab. Sondern als jemand, der da bereits durchgegangen ist. Als jemand, der möchte, dass ich am anderen Ende heil rauskomme.

GEBROCHEN GLAUBEN

Mal wieder sitze ich an einer Predigt. Ich habe weitere Zurückweisungen erlebt. Weitere Stolpersteine und Rückschläge in meinem beruflichen Werdegang. Meine Mutter hat den Krebs besiegt – vorerst – aber jetzt ist es mein Vater, der zwei Gehirntumore hat. Ich selbst brauchte keine OP. Das kann aber noch kommen. Trotzdem stelle ich mich am Sonntag auf die Kanzel und erzähle von Vertrauen. Von Jesus, der im Sturm auf den Wellen läuft und uns die Hand entgegenstreckt. Und von begründeter Hoffnung. Warum? Weil Gott derselbe bleibt. In den guten und in den schlechten Zeiten. Gerade in solchen Phasen ist Glaube für mich auch eine Entscheidung. Halte ich fest an der Hoffnung, wenn die Stürme der Welt gerade lauter erscheinen als seine Stimme? Glaube ich den Verheißungen, die gültig bleiben, dass ich gerettet, gesegnet und geliebt bin, auch wenn ich konkrete Situationen eher als Fluch empfinde? Noch immer erlebe ich, dass ich Lieder nicht mitsingen kann. Und dann lasse ich es. Erzähle Gott, warum ich es nicht kann. Ich bete darum, dass diese Dinge für mich wahr werden. Ich danke für die vielen kleinen Bereiche, in denen sie es schon sind. Und manche sprechen dann doch: „I will praise you in this storm.“ An manchen Tagen kann ich das. Von ganzem Herzen. Mein Glaube bleibt etwas Gebrochenes. Und das ist in Ordnung, weil es mir nicht die Hoffnung raubt. Denn Gott geht mit. Auch durch das finstere Tal.

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Hilferuf eines Angefochtenen

Von Levian Scheidthauer

Eine Auslegung von Psalm 13

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 

Es ist ein Markenzeichen der Psalmen, dass sie uns die labilen Stimmungslagen großer Glaubenshelden auf dem Silbertablett servieren. „Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?“ Ist das nicht allzu menschlich? Wie oft fühlen wir uns in unserem Scheitern von Gott verlassen. In der Stunde der großen Niederlagen, wenn es einsam um einen wird. Solange es läuft, feiern wir seinen Segen, aber unser Scheitern erleben wir auf uns selbst zurückgeworfen. Gott, bist du nur der Gott der Siegertypen? David macht aus diesem Gefühl keinen Hehl, auch wenn er es – wie sich zeigen wird – besser weiß.

 

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Da versinkt einer in einer Mischung aus Angst und Selbstmitleid. Nicht aus Selbstzweifeln, sondern aus Gottverlassenheit. Die Angst versperrt uns den klaren Blick auf die Dinge, zerstört auch das stabilste Lebensgefühl. Mit Angst ist alles bitter. Ohne Gott ist alles bitter. Und David leidet wie ein Schlosshund.

Aber David bleibt nicht bei seinen eigenen Gefühlen. Seine Klage wird persönlicher. Das Gefühl, Gott sei irgendwie abwesend in einer Phase, in der David Gottes Beistand mehr denn je brauchen könne, hinterfragt Gottes Gameplan. Gott, bist du wirklich auf der Seite der Unterdrückten? Bist du bereit, dich bei Ungerechtigkeit auf meine Seite zu schlagen? Oder brauche ich auf seine Unterstützung nicht zu hoffen, wenn ich angefeindet werde?

 

Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. 

Endlich wandelt sich der Tonfall. David überwindet die Distanz, die aus den ersten Versen heraus spricht. Statt weiter mit Gott über dessen Schweigen zu hadern, beginnt er zu flehen. Es geht um Leben und Tod – wie viel Selbstmitleid kann sich David da noch leisten? David vertraut sich Gott neu an. In seiner Ohnmacht lässt er sich retten.

 

Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; / mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir tut.

„Ich traue aber darauf“ – David besinnt sich auf seinen Gott, den er in der Vergangenheit als gnädig und hilfsbereit erfahren hat. Er wankt, aber fällt nicht. Natürlich registriert er seine Gefühle, bleibt aber nicht bei ihnen stehen, sondern konfrontiert sie mit der Wahrheit über Gottes Wesen. David muss die Wahrheit nicht spüren, um sich auf sie stellen. Gott, der Gnädige und Hilfsbereite, wird „wohl an mir“ tun – auch wenn ich seine Hand in diesem Augenblick nicht spüre. Deshalb endet sein Psalm auch nicht im Moll, sondern im Lobpreis: ein Vorgriff auf Gottes Treue, die David schon heute feiern kann, weil er sie glaubensgewiss morgen erleben wird.

Dieser Artikel erschien in DRAN NEXT, dem Magazin zum Selberglauben. Jetzt kostenlos testen: www.dran-next.de