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Ausgebremst

Rüdiger Jope

Heute Morgen bin ich wieder in den Verlag gejoggt. 7,6 km entlang des Ruhrtalradwegs. Sonnenstrahlen saugten Nebelschwaden auf. Eine Blindschleiche kreuzte meinen Weg. Aus einem Tümpel erklang ein Froschkonzert. Kanadische Graugänse schnatterten um die Wette. Zwei Graureiher waren auf Frühstückssuche. Und mittendrin ich. Dankbar. Atmend. Glücklich. Beweglich. Schmerzfrei.

Ein Jahr vorher bewältige ich denselben Weg. Doch seit ein paar Tagen quälen mich Schmerzen. Das linke Knie läuft nicht mehr rund. Ich sage mir von September bis April: Schmerz gehört zum Sportlerleben! Hey, du bist keine 25 mehr! Mach nicht den Affen! Beiß die Zähne zusammen! Das gibt sich! Morgen wird’s besser!

Nach acht Monaten laufe ich mir und dem Schmerz nicht mehr davon. Ein Arzt betastet mein Knie. Nach fünf Minuten diagnostiziert er einen Riss im Meniskus. Er fragt mich: „Wollen Sie aufhören mit Laufen? Dann brauchen wir nichts zu tun. Wollen Sie weiter joggen und Radfahren? Falls ja, dann rate ich Ihnen zu einer Reparatur.“ Drei Wochen später unterziehe ich mich einem kleinen ambulanten Eingriff. Ende Juni schnüre ich zum ersten Mal wieder vorsichtig die Laufschuhe. Zu meiner Verblüffung: Schmerzfrei. Ungebremst. Leicht.

Als Mann habe ich ein Dreifaches gelernt: 1. Unangenehmes anpacken! Es lohnt sich nicht, vermeidbare und behebbare Schmerzen für ein halbes Jahr auf die sprichwörtlich lange Bank zu schieben. Die Schmerzfreiheit hätte ich auch schon im Oktober letzten Jahres wiederhaben können. 2. Heilung suchen! Es ist wichtig, Risse im Körper, im Leben, im Miteinander, in Beziehungen nicht zu bagatellisieren, nicht kleinzureden, nicht auszublenden, sondern anzupacken, sich mutig heilenden und helfen Händen und Fachleuten auszusetzen, damit Mann (und Frau) Bewegungsfreiheit, Bewegungsfreude und Bewegungsenergie zurückerlangen. 3. Achtsam sein! In und um die persönliche Motor-Auszeit herum habe ich für Privilegien danken gelernt: ärztliche Versorgung, ausreichende Medikamente, eine sich liebevoll kümmernde Familie inklusive Drinks auf der Terrasse serviert vom Neunjährigen, einer Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, den WhatsApps und Anrufen von Freunden (DANKE Stefan und Ralph). Und ich habe begriffen: Genesung ist nicht selbstverständlich, nicht planbar, sondern ein einzigartiges Geschenk.

Das Buch „Beginne jeden Tag wie ein neues Leben“ von Tomas Sjödin hat mir stillgelegt im Strandstuhl aufgeholfen. Alle, die unter Rissen, Schmerzen, Wunden und Verletzungen leiden, ermutigt der Autor: „Leugne nicht das Dunkle, aber schätze die Kraft des Lichtes nicht zu gering.“ In diesem Sinne wünsche ich allen Männern einen hoffnungsvollen, heilenden und mutigen Herbst.

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Als Afrikaner in der Gemeindeleitung

Dr. Ulrich Wendel

Serie: Unbekannte Personen der Bibel

Luziusʼ Weg von Kyrene nach Antiochia

Beten, auf Gott hören und andere Christen unterrichten: Das waren die Aufgaben von Luzius, als er in der Gemeinde von Antiochia lebte. Diese Stadt am Orontes heißt heute Antakya und liegt im südlichen Zipfel der Türkei. In neutestamentlicher Zeit gehörte sie zur römischen Provinz Syrien. Die Gemeinde in Antiochia war eine der wichtigsten des Urchristentums. Luzius gehörte dort zu einem fünfköpfigen Team von urchristlichen Propheten und Lehrern (Apostelgeschichte 13,1), trug also große Verantwortung, die er mit anderen teilen konnte.

Nordafrikaner in Jerusalem

Wo kam Luzius her und wie kam er nach Antiochia? Seine Heimat war Kyrene. Diese Stadt lag unweit der nordafrikanischen Mittelmeerküste, im heutigen Libyen. Luzius war also Afrikaner – aus einer Region, die berberisch und arabisch geprägt war. Er war vermutlich aber nicht unmittelbar von Nordafrika nach Antiochia übergesiedelt. Denn wir wissen von der dortigen Gemeinde, dass sie entstand, als kyrenische Christen aus Jerusalem fliehen mussten und nach Antiochia kamen (Apostelgeschichte 11,20). Die Annahme liegt auf der Hand, dass Luzius einer von ihnen gewesen ist. Sein Aufenthalt als Afrikaner zuvor in Jerusalem war nichts Ungewöhnliches. Es gibt verschiedene Hinweise auf Juden aus Kyrene, die in Jerusalem lebten. Einer davon ist Simon von Kyrene, der das Kreuz von Jesus nach Golgatha trug (Markus 15,21). Während des Wochenfestes, das dann zum Pfingstfest wurde, weil Gott seinen Geist ausgoss, waren auch Pilger aus Kyrene in der Heiligen Stadt (Apostelgeschichte 2,10). Doch nicht nur Festtagsbesucher, sondern auch dauerhaft angesiedelte kyrenische Juden gab es dort, sodass man sich sogar in einer eigenen „Synagoge der Kyrenäer“ traf (Apostelgeschichte 6,9).

Luzius könnte also einer dieser Kyrener gewesen sein, der während der Pfingstpredigt von Petrus oder etwas später zum Glauben an Christus kam. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er in seiner Heimatstadt Christ wurde. Manche nehmen an, dass in Kyrene schon früh eine Gemeinde entstanden war. Der Missionsforscher Eckhard Schnabel weist darauf hin, dass viele Juden zwischen Jerusalem und Kyrene und zwischen Antiochia und Kyrene hin- und herreisten. Frühe christliche Missionare könnten auf diesen Wegen ebenfalls rasch nach Nordafrika gekommen sein. Wenn sie es waren, die Luzius zum Glauben führten, dann wäre er nicht schon mit der Vertreibungswelle aus Jerusalem nach Antiochien gekommen – sie geschah um 31/32 n. Chr., als wohl noch keine Gemeinde in Kyrene existierte –, sondern erst später.

Propheten und Lehrer in Antiochia

Wie auch immer: Um das Jahr 45 n. Chr. treffen wir ihn jedenfalls als einen aus der Gruppe der Propheten und Lehrer in der Gemeinde am Orontes an. Hier war er an einem Gottesdienst beteiligt, der zur ersten Missionsreise von Saulus führte. Und wie das genau vor sich ging, darauf lohnt es sich einen näheren Blick zu werfen.

Barnabas und Saulus wurden von der Gemeinde als Missionare ausgesandt, nachdem der Heilige Geist eine Berufung ausgesprochen hatte. Dieses Reden des Geistes ereignete sich, als die erwähnten fünf Propheten und Lehrer (vielleicht zusammen mit der ganzen Gemeinde) fasteten und beteten. Die späteren Reisemissionare Barnabas und Saulus gehörten selbst zu dieser Fünfergruppe, waren also prophetisch und didaktisch begabt. Die übrigen drei waren eben jener Luzius aus Kyrene, dann ein Mann namens Manaën und schließlich Simeon mit dem Beinamen Niger. Es ergibt sich ein bemerkenswertes Bild. Saulus stammte aus Tarsus in Kilikien, an der Südküste Kleinasiens (der heutigen Türkei). Barnabas kam gebürtig aus Zypern. Manaën war als Jugendlicher mit dem späteren Herrscher Herodes Antipas aufgezogen worden, sicherlich in Jerusalem. Von Luzius kennen wir ja seine Herkunft aus Nordafrika. Und der Fünfte in der Gruppe war höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Afrikaner – sein Beiname „Niger“ heißt übersetzt: der Schwarze.

Wo „schwarzes Leben zählte“

Der Kreis der verantwortlichen Propheten und Lehrer war also multikulturell zusammengesetzt und bestand zu zwei Fünfteln aus Afrikanern. Nachdem der Zypriot Barnabas und der Kilikier Paulus auf Reisen geschickt worden waren, waren die Afrikaner – zumindest eine Zeitlang, wir wissen ja nichts, darüber, ob und wie der Kreis dann ergänzt wurde – in der Mehrheit. Mindestens einer dieser beiden Afrikaner war durch seine schwarze Haut unübersehbar als solcher erkennbar. Ob sich auch Luzius durch seine Hautfarbe abhob, ist schwer zu sagen. Der Teint von Libyern und Syrern (wo Antiochia lag) war vielleicht nicht so unterschiedlich wie von – sagen wir – weißen Amerikanern und Afroamerikanern. Doch allen war bewusst, dass auch Luzius aus Afrika kam: Sein Beiname war unmissverständlich.

Unseren westlich geprägten Kulturen muss gerade in diesem Jahr neu bewusst gemacht werden, dass „schwarzes Leben zählt“ (Black Lives Matter, so das Motto einer ursprünglich US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung). Auch unter Christen ist es nicht überall selbstverständlich, Schwarzen ohne Vorbehalte zu begegnen. Luzius aus Kyrene zeigt uns, wie integrativ christliche Gemeinden sein können und sollen. Schon in Jerusalem gehörten ja „Männer aus Kyrene“ fraglos dazu. Und aus Antiochien am Orontes ist uns überliefert, dass Dunkelhäutige (oder People of Color, wie man heute sagen würde) die Gemeinde selbstverständlich prägten und erhebliche Verantwortung in ihr trugen.

Vorhut von Gottes neuer Welt

Luzius und die anderen, die seinen Dienst begrüßten, unterstützten und daraus Nutzen zogen – sie waren eine Vorhut. Die Vorhut der großen Menge „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“, die in der Vollendung Gott auf seinem Thron anbeten werden (Offenbarung 7,9). Und wenn der neue Himmel und die neue Erde Realität sind, heißt es: Gott „wird bei ihnen wohnen und sie werden seine Völker sein“ (Offenbarung 21,3) – ethnische Vielfalt also auch dann noch! Das ist Gottes Zukunft. Luzius und seine Mitchristen lebten bereits ein Stück davon.

 

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Hilferuf eines Angefochtenen

Von Levian Scheidthauer

Eine Auslegung von Psalm 13

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 

Es ist ein Markenzeichen der Psalmen, dass sie uns die labilen Stimmungslagen großer Glaubenshelden auf dem Silbertablett servieren. „Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?“ Ist das nicht allzu menschlich? Wie oft fühlen wir uns in unserem Scheitern von Gott verlassen. In der Stunde der großen Niederlagen, wenn es einsam um einen wird. Solange es läuft, feiern wir seinen Segen, aber unser Scheitern erleben wir auf uns selbst zurückgeworfen. Gott, bist du nur der Gott der Siegertypen? David macht aus diesem Gefühl keinen Hehl, auch wenn er es – wie sich zeigen wird – besser weiß.

 

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Da versinkt einer in einer Mischung aus Angst und Selbstmitleid. Nicht aus Selbstzweifeln, sondern aus Gottverlassenheit. Die Angst versperrt uns den klaren Blick auf die Dinge, zerstört auch das stabilste Lebensgefühl. Mit Angst ist alles bitter. Ohne Gott ist alles bitter. Und David leidet wie ein Schlosshund.

Aber David bleibt nicht bei seinen eigenen Gefühlen. Seine Klage wird persönlicher. Das Gefühl, Gott sei irgendwie abwesend in einer Phase, in der David Gottes Beistand mehr denn je brauchen könne, hinterfragt Gottes Gameplan. Gott, bist du wirklich auf der Seite der Unterdrückten? Bist du bereit, dich bei Ungerechtigkeit auf meine Seite zu schlagen? Oder brauche ich auf seine Unterstützung nicht zu hoffen, wenn ich angefeindet werde?

 

Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. 

Endlich wandelt sich der Tonfall. David überwindet die Distanz, die aus den ersten Versen heraus spricht. Statt weiter mit Gott über dessen Schweigen zu hadern, beginnt er zu flehen. Es geht um Leben und Tod – wie viel Selbstmitleid kann sich David da noch leisten? David vertraut sich Gott neu an. In seiner Ohnmacht lässt er sich retten.

 

Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; / mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir tut.

„Ich traue aber darauf“ – David besinnt sich auf seinen Gott, den er in der Vergangenheit als gnädig und hilfsbereit erfahren hat. Er wankt, aber fällt nicht. Natürlich registriert er seine Gefühle, bleibt aber nicht bei ihnen stehen, sondern konfrontiert sie mit der Wahrheit über Gottes Wesen. David muss die Wahrheit nicht spüren, um sich auf sie stellen. Gott, der Gnädige und Hilfsbereite, wird „wohl an mir“ tun – auch wenn ich seine Hand in diesem Augenblick nicht spüre. Deshalb endet sein Psalm auch nicht im Moll, sondern im Lobpreis: ein Vorgriff auf Gottes Treue, die David schon heute feiern kann, weil er sie glaubensgewiss morgen erleben wird.

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Legenden über die Bibel: Das Nadelöhr

Von Dr. Ulrich Wendel

Das Kamel im Nadelöhr

Über die Bibel kursieren viele Ideen, die zwar populär sind, aber der Nachprüfung nicht standhalten: Maria Magdalena war eine Prostituierte, der Rauch von Abels Opfer stieg senkrecht zum Himmel auf – und manches mehr…

„Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!“ (Matthäus 19,24). Mit diesem Wort hat Jesus Wohlhabende zu allen Zeiten herausgefordert. Meinte er wirklich, dass kein Reicher in Gottes Reich kommen könnte? Betonte Jesus die Unmöglichkeit?

In vielen Predigten landauf landab hört man eine Erklärung für dieses steile Wort von Jesus. „Nadelöhr“ war damals der volkstümliche Name für ein ziemlich kleines Tor in der Jerusalemer Stadtmauer. Fußgänger passten hindurch, aber wenn jemand sein Lastkamel durch dieses Tor führen wollte, dann musste sich das Kamel dazu niederknien. Für das Wort von Jesus ist damit klar: Das Kamel kommt nur schwer hindurch, aber zur Not kommt es hindurch. Und Gleiches gilt dann für die Reichen und das Himmelreich. Diese Erklärung ist so populär, dass in einem Torbogen am Kirchplatz einer Dortmunder Kirche das Kamel als Steinplastik abgebildet ist.

Bei landeskundlichen oder archäologischen Erklärungen für Bibeltexte findet man in den Kommentaren immer eins von beiden: Entweder den Hinweis auf einen archäologischen Fund, eine Ausgrabung – oder den Verweis auf einen alten Text, der vom betreffenden Sachverhalt spricht. Für das antike Jerusalem würde man vielleicht bei sehr alten Talmudsprüchen oder beim Geschichtsschreiber Josephus suchen. Bloß: Für dieses angebliche Tor gibt es nicht den geringsten historischen Hinweis! Weder hat jemand im Laufe der Geschichte es gesehen noch einen antiken Text als Beleg gefunden.

Auf Knien laufen?

Es handelt sich bei der Stadttor-These also um eine Art Ente, eine Falschmeldung. Genauer: eine urban legend, eine umlaufende Legende, die seit Jahrzehnten ungeprüft weitererzählt und abgeschrieben wird. Gerade die Bibel hat allerlei solcher urban legends an sich gezogen.

Das harte Wort von Jesus wäre durch diese vermeintliche Erklärung leichter geworden. Aber schon einfaches Nachdenken weckt Zweifel: Hätte man damals wirklich so ein unpraktisch kleines Tor gebaut? Wozu wäre das gut gewesen? Und – wenn ein Kamel sich niederkniet, wie sollte es dann noch durch das Tor kommen? Auf Knien laufend? Oder robbend?

Auch die Ankertau-Deutung hilft nicht

Übrigens ist auch eine andere Erklärung für das Jesuswort kaum zutreffend: Das Wort „Kamel“ („kamelos“) soll im Griechischen damals „kamilos“ ausgesprochen worden sein, was auch Ankertau bedeutet. Dagegen spricht dreierlei: An anderer Stelle meint Jesus sicher ein Kamel, wenn er Kamel sagt (Matthäus 23,24). Das Ankertau würde die Sache ja nicht besser machen, denn es geht genauso wenig durch ein Nadelöhr wie das Höckertier. Und schließlich: Jesus benutzte oft groteske Worte, um auf eine bestimmte Wahrheit aufmerksam zu machen, so zum Beispiel das Wort vom Balken im Auge (Matthäus 7,3). Ähnlich gelagert ist auch das Wort von Salz. Wenn es kraftlos geworden sei, kann es nicht mehr salzen (Matthäus 5,13). Was ist gemeint? Nun, Salz kann einfach seine Salzkraft nicht verlieren. So lautet auch eine alte rabbinische Äußerung sinngemäß: So wie eine Mauleselin (die ja biologisch unfruchtbar ist) keine Nachgeburt haben kann, so kann Salz nicht unsalzig werden. Es ist unmöglich.

Die gleiche Unmöglichkeit meinte Jesus auch mit seinem Bildwort vom Kamel im Nadelöhr.

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Legenden über die Bibel: Der Feigenbaum

Von Dr. Ulrich Wendel

„Der blühende Feigenbaum ist Symbol für die Staatengründung Israels“

Über die Bibel kursieren viele Ideen, die zwar populär sind, aber der Nachprüfung nicht standhalten: Maria Magdalena war eine Prostituierte, das „Nadelöhr“ war ein Stadttor in Jerusalem – und manches mehr…

 

„Wenn der Feigenbaum blüht …“ – so oder ähnlich lauten die Titel von Predigten oder frommen Infoschriften über Israel. Im Ton einer gespannten Erwartung wird dann oft gesagt: Jesus habe Israel mit dem Feigenbaum verglichen. Wenn der blüht, sei die allerletzte Zeit angebrochen. Weil nun der Feigenbaum in der Bibel ein Symbol für Israel sei und weil 1948 die Welt zusehen konnte, wie der Staat Israel sich gründete, sei diese Prophetie von Jesus dabei, in Erfüllung zu gehen.

Zweifellos wäre es atemberaubend, direkter Zeitgenosse zu sein, wenn eine biblische Ankündigung sich erfüllt. Bloß: In der Bibel ist der Feigenbaum gar kein besonderes Symbol für Israel! Die Stellen, die dafür gelegentlich genannt werden, sprechen mal von zwei Sorten Feigen (Jeremia 24,1-10), mal von einer Feige zusammen mit Weintrauben (Hosea 9,10), mal von einem Weinstock und einem Feigenbaum (Joel 1,7). Wer das Alte Testament liest, käme kaum auf die Idee, unter den Bildworten für Israel würde gerade der Feigenbaum eine hervorstechende Rolle spielen.

Jesus hat den Feigenbaum dann als Gleichnis angeführt (Matthäus 24,32-44). Aber als Gleichnis wofür? Dafür, dass es Abläufe in der Geschichte gibt, die man an ihren Vorzeichen erkennen kann. So wie man den bevorstehenden Sommer daran erkennt, dass der Feigenbaum Blätter hervorbringt, so hat auch die letzte Zeit der Geschichte vorab ihre Hinweise. Jesus spricht hier weder speziell von Israel noch vom „Blühen“ des Feigenbaums. Und in der parallelen Stelle Lukas 21,29 sagt er: „Seht den Feigenbaum und [überhaupt] alle Bäume“. Es geht Jesus also gar nicht um einen speziellen Baum, sondern allgemein darum, dass Bäume eben zu bestimmter Zeit ausschlagen. Mehr ist nicht gesagt.

Dass die Staatengründung Israels eine Erfüllung des Jesuswortes vom Feigenbaum sei, ist leider ein Beispiel dafür, dass man ein Bibelwort erstens ungenau gelesen hat und zweitens noch mit Vorstellungen auffüllte, die weder dort noch im weiteren Zusammenhang zu finden sind.

Nun gibt es noch eine zweite Begebenheit, die mit Jesus und einem Feigenbaum zu tun hat. Als Jesus in Jerusalem kurz vor dem Passahfest einen Feigenbaum ohne Früchte sah und dort also nicht frühstücken konnte, kündigte er diesem Baum die Vernichtung an. Der verdorrte daraufhin augenblicklich (Matthäus 21,18-22) bzw. am nächsten Tag (Markus 11,20). Zu dieser Jahreszeit wären normalerweise die kleinen Vorfeigen zu erwarten gewesen, aber an diesem Baum nun fehlten sie. Immer wieder wird diese Stelle so ausgelegt, dass Jesus mit dieser Szene zeichenhaft Israel verflucht habe. Diese Auslegung hätte aber nur dann eine Basis, wenn man als Bibelleser beim Feigenbaum unwillkürlich an Israel denken müsste – dieser Zusammenhang fehlt aber eben in der Bibel! Allzu oft haben Christen gemeint, Gott habe sein Volk verflucht. Auch die Begebenheit mit dem Feigenbaum wurde dazu missbraucht. Zwar folgt im Markusevangelium auf die Verfluchung des Feigenbaums sogleich die Szene, in der Jesus im Tempel die Händler hinauswirft (Markus 11,16-19), aber das hat mit einem „Fluch“ über den Tempeldienst nichts zu tun. Jesus übt hier als Prophet eine Kritik am Tempel, wie sie schon aus dem Alten Testament (z.B. in Jeremia 7,1-15) bekannt ist.

Die eigentliche Bedeutung seines Wortes gegen den Feigenbaum hat Jesus seinen Jüngern selbst klar und deutlich gezeigt: Das glaubende Gebet hat eine genauso starke Wirkung wie das Vernichtungswort von Jesus an diesen Baum (Matthäus 21,21-22). Mehr wollte Jesus nicht sagen.

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Die Gottesdienst-Wirkung verstärken

Von Dr. Ulrich Wendel

Die Bibel mit in den Gottesdienst bringen: Ist das nützlich? Oder lenkt es ab von dem, was man von vorne hört?

Die Diskussionsteilnehmer in einem Forum auf www.jesus.de waren geteilter Meinung. Einige bringen aus Überzeugung ihre Bibel in die Kirche mit und lesen den Predigttext nach. Andere bringen ihre Bibel nicht mit – weil sie sie bereits in der Kirche deponiert haben. Manche empfinden es als respektlos dem Pfarrer gegenüber, während der Predigt Bibel zu lesen – als ob man ihn kontrollieren wolle.

Natürlich kann es sein, dass man eine andere Übersetzung dabei hat als die, aus der im Gottesdienst vorgelesen wird. Auch hier finden die einen das dann ablenkend, die anderen begrüßen die Variante als Ergänzung. Die Zahl derer aber ist groß, denen es zur Konzentration hilft, in ihrer eigenen Bibel mitzulesen. Und auch dieser Hinweis kam im Forum: Wenn die Predigt mal langweilig sein sollte, hat man immer noch was Interessantes dabei…

Ich persönlich meine, es kann die Wirkung einer Predigt oder eines Gottesdienstes ziemlich verstärken, wenn ich meine Bibel dabei habe und die Lesungstexte aufschlage. Ich begreife den Zusammenhang des Textes besser, um den es geht. Ich kann einen bedeutsamen Vers mit Bleistift unterstreichen. Und wenn ich den Predigttext zu Hause noch mal in derselben Bibel nachlese, vielleicht mit meinen Anstreichungen, ist das eine gute Verknüpfung zwischen Sonntag und Montag. Das sind Wirkungen, die der Bibeltext, der auf Leinwand gebeamt wird, so nicht leisten kann.

Ich kenne eine Gemeinde, in der es fast schon zum Standard gehört, die eigene Bibel dabei zu haben. Es hat mich beeindruckt, wie die Gemeindemitglieder ermutigt werden, alles Gehörte mit der Bibel zu vergleichen. Auch das persönliche Bibellesen wird so geprägt.

Ich weiß aber, dass es natürlich auch noch die „andere Hälfte“ der Kirchgänger gibt, die im Gottesdienst lieber nur hören und nicht auch noch lesen. Zu welcher Gruppe gehören Sie – und warum?

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Luther und die Seligkeit

von Melanie Eckmann

Einem alten Wort aus der Bibelsprache auf der Spur

„Wer’s glaubt wird selig!“ Das ist eine Redewendung, die heute Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Aussage zum Ausdruck bringt. Dem, der den Glauben aufbringt, trotz schwacher Beweislage an dies oder jenes zu glauben, wird das eigene Seelenheil versprochen. Natürlich ist das ironisch gemeint.

Woher kommt diese Redensart? Der Ausspruch findet sich nicht wortwörtlich in der Bibel, weist aber Anklänge an den Missionsbefehl in Markus 16,16 auf, in dem es nach der Lutherübersetzung aus dem Jahr 1545 heißt: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden.“ Noch enger werden die Worte „glauben“ und „selig“ in Johannes 20,29 kombiniert. Jesus begegnet Thomas, der an der Auferstehung zweifelt, mit den Worten: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Das klingt danach, als ob Jesus seinem Jünger das Seelenheil zuspricht, wenn dieser nur glaubt – also ganz auf der Linie seines Missionsbefehls.

Zwei Wege in die Seligkeit

Allerdings ist die Sache komplizierter. Das Wort „selig“ – es gehört zum Grundbestand der „Bibelsprache“ – steht in der Lutherübersetzung für zwei ganz verschiedene Worte des griechischen Grundtextes. Diese beiden Worte heißen, direkt übersetzt, „gerettet“ und „glücklich“. Es geht also einmal um ein Geschenk, das bis in die Ewigkeit hineinreicht, und das andere Mal um eine recht irdische, diesseitige Angelegenheit.

Im heutigen Deutsch sind diese beiden Aspekte kaum mit einem einzigen Wort zu erfassen. Die Medaille hat zwei Seiten. Ein Beispiel: Je nach Familienbeziehung kann der eine an Großmutters Grab der Verstorbenen einen sel’gen Frieden im ewigen Leben wünschen – und einem anderen kann ihr Tod ein seliges, glückliches, Lächeln über das Gesicht huschen lassen. Bei dem ersten geht es um das, was die Bibel mit „Rettung“ meint, beim zweiten um irdische Erleichterung, um Glück hier und jetzt.

Das Ringen um die Worte

Warum war das deutsche Wort „selig“ nun für Luther dennoch geeignet, um beide Aspekte auszudrücken? Beide Verwendungen des Adjektivs „selig“ sind aus dem Germanischen überliefert. Und das griechischen Wort für „gerettet werden“ (sōthēsesthai) hat seinerseits auch eine ziemliche Bedeutungsbreite. Es heißt – je nach Zusammenhang – „gerettet werden“, „beschützt/bewahrt werden“ und „geheilt werden“. Auch in Heilungsberichten wird es verwendet, wo jemand in irdischer Hinsicht gesund wird und die ewige Errettung noch kein Thema ist.

Um die Dinge noch komplizierter zu machen: Für die Übertragung des Neuen Testamentes in die deutsche Sprache verwandte Luther als Hilfsmittel die Vulgata, also die zu dem Zeitpunkt am weitesten verbreitete lateinische Bibelübersetzung. Am Beispiel von Markus 16,16 zeigt ein Blick zwischen ihre Buchdeckel, dass für sōthēsesthai der Ausdruck salvus erit hier seinen Platz gefunden hat. Salvus aber heißt im Lateinischen „gesund“ – obwohl der Missionsauftrag zweifellos die ewige Rettung, die Erlösung durch den Glauben, meint.

Das Glück im Jetzt

Die bekannten Seligpreisungen in Matthäus 5,3-11 sprechen nun noch einmal von einer anderen Art der „Seligkeit“. Das zugrunde liegende Wort makarios meint schlicht „glücklich“. Luther übersetzt auch hier: „Selig sind, die […]“.­ Die Worte von Jesus wirken bei genauerer Betrachtung paradox. Ein momentaner – meist unerfreulicher oder belastender – Lebensumstand bekommt das Prädikat „glücklich“. Die Seligpreisungen stellen das Leid in der Gegenwart in das Licht einer verheißungsvollen Zukunft. Und in diesem Licht kann der Leidende jetzt schon „glücklich“ sein. Auch hier geht es nicht um Erlösung in der Ewigkeit. Jesus meint ein irdisches Glück.

Genau das ist auch die Aussage gegenüber dem Zweifler Thomas. Die Seligkeit in Johannes 20,29 bezieht sich nicht auf das selige Leben bei Gott, sondern ein Glücklich-Sein auf Erden: „Wer’s glaubt, wird selig. Das Versprechen von Jesus zielt auf die Erde.

Greifbares Glück

Glück war für damalige Menschen aus der griechisch-römischen Kultur etwas durchaus Greifbares. Mit ihrem Wort für „glücklich“ – makarios – meinten sie Erfahrungen, die auch mit den Sinnen erfasst werden konnten. Sie dachten nicht bloß an irgendetwas in der Seele.

Genau hier entsteht eine weitere Schwierigkeit mit unserem Wort „selig“. Es klingt eben so sehr nach Seele. In früheren Jahrhunderten wurde dieses Wort tatsächlich noch mit zwei e geschrieben; da sprach die Kirche jemanden „seelig“ und man fragte sich, wie man „seelig“ sterben könne. Gemeint war: so sterben, dass man in die Erlösung eingeht. Wir würden das also als „errettet“ bezeichnen, das griechische Wort sōthēsesthai steht im Hintergrund.

Nun bezieht sich aber die biblische Auferstehungshoffung durchaus nicht nur auf die Seele. Paulus spricht von körperlicher Auferstehung. Das Wort „seelig“ verdeckt diesen Aspekt. Und auch heute noch sind die Seligpreisungen von Jesus diesem Missverständnis ausgesetzt, dass Jesus nur etwas Seelisches meine. Doch so ist es keineswegs. Egal ob das Glück auf Erden gemeint ist oder das Gerettet-Sein bei Gott – die Seligkeit hat in ihrer germanischen Wortherkunft nichts mit der „Seele“ gemeinsam. Von einer bloßen Innerlichkeit kann nicht die Rede sein. „Selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören“, sagte Jesus zu seinen Jüngern (Matthäus 13,16). Und was sahen ihre Augen, wovon hörten ihre Ohren? Doch zum Beispiel auch die Heilungswunder von Jesus. Etwas sehr Irdisch-Greifbares also. Daran beteiligt zu sein, auch das ist Glück.

Luther auf’s Maul geschaut

Luther führte für Jahrhunderte ein Wort in Sprachgebrauch und Volksglauben ein, das zwei Bedeutungen kombinierte. Das prägte. So hat der Volksmund Luther auf’s Maul geschaut und über die Zeit das Sprichwort gebildet: „Wer’s glaubt, wird selig.“ Wenn wir heute verstehen wollen, welche Bedeutung in welcher Bibelstelle genau gemeint ist, hilft uns das Wort „selig“ allerdings nicht mehr viel. Wer hier andere, heute präzisere Worte verwenden wollte, würde wohl ganz im Sinne Luthers handeln, der sagte: „Denn wer übersetzen will, muss einen großen Vorrat an Worten haben, dass er die Wahl haben könne, wo eins nicht an alle Stellen recht klingen will.“

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Es gibt keine biblischen Prinzipien

Von Dr. Ulrich Wendel

Man begegnet ihr immer wieder: der Redeweise von „biblischen Prinzipien“. In zahlreichen Predigten, aber auch in Büchern und Schulungskonzepten. Da gibt es zum Beispiel „biblische Prinzipien für gelungene Kommunikation“ nach Epheser 4, ferner biblische Prinzipien für den Umgang mit Geld (unter dem Titel „Mäuse, Motten und Mercedes“) oder auch biblische Geschäftsprinzipien: „Die Bibel, das beste Managementhandbuch der Welt!“ Nicht zu vergessen die biblischen Prinzipien des Gemeindewachstums.

Keine Frage, Prinzipien sind nützlich. Weil man wenige allgemeine Grundsätze dann auf seine spezielle Situation anwenden kann. Ein Prinzip passt „im Prinzip“ erst mal immer und überall. Es ist handhabbar und funktioniert aus sich heraus.

Genau das ist es, was mich misstrauisch macht gegenüber der inflationären Verwendung von sogenannten biblischen Prinzipien. Denn der Glaube, den die Bibel beschreibt, ist nicht handhabbar und funktioniert auch nicht aus sich heraus. Er „funktioniert“ überhaupt nicht, sondern er lebt aus der Begegnung mit Gott.

Gott zeigt sich in der Bibel nicht in abstrakten Prinzipien, sondern durch sein Handeln in der Geschichte. Das ist ein pulsierendes Geschehen. Der lebendige Gott bleibt sich treu – aber er unterwirft sich keinen Prinzipien. Wer biblische Prinzipien sucht, läuft Gefahr, ein Christentum zu produzieren, das letztlich ohne Gott auskommt. Man hat ja Prinzipien…

Außerdem: Sind die Bibeltexte, die für bestimmte Prinzipien herhalten müssen, nicht oft willkürlich ausgewählt? Wer sagt denn, dass ein bestimmtes Prinzip gerade in diesem Briefabschnitt von Paulus oder in jenem Spruch Salomos steckt? Was ist mit den vielen anderen Texten, die auch noch etwas zu sagen haben? Fallen die aus dem Prinzip heraus? Oft fügen sich die Texte der Bibel eben in kein Prinzip ein.

Natürlich gibt es wiederkehrende Grundmuster, wie Gott handelt. So z.B. das Muster von Saat und Ernte: Was der Mensch sät, wird er ernten (vgl. Galater 6,7-8; 2. Korinther 9,6). Aber hier gibt es auch zahlreiche Ausnahmen. Und das wichtigste Grundmuster der Bibel ist kein Prinzip, sondern ein Geschenk: Gott ist Liebe. Die wichtigste Berufung ist keine Maxime, sondern der Ruf eines liebenden Gottes: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben.“

Wie wir als Christen leben sollen, sei es im Blick auf Kommunikation, Geld, Geschäftsverhalten oder Gemeindewachstum, es wird immer nur gehen im engen Gespräch mit Gott. Und nie ohne den Heiligen Geist.

Gottes Wort ist nicht unübersichtlich, nicht unberechenbar. Aber auch nicht starr festgelegt auf Prinzipien. Sondern reich und weit und lebendig und von Gottes Charakter durchdrungen. Es ist jedem Prinzip überlegen.

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Aus der Gnade herausfallen?

Von Dr. Ulrich Wendel

Falsch verstandene Bibelverse erklärt

„Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen (Galater 5,4).“

„Man kann auch aus der Gnade herausfallen!“ Ich habe die besorgte Stimme desjenigen noch im Ohr, der mir das sagte. Erst viel später entdeckte ich, dass er sich auf diesen Vers aus der Bibel bezog. Alle, die ich über diesen Bibelvers sprechen hörte, waren im Glauben eher unsichere Menschen, denen der Zweifel näher lag als die Gewissheit. Diese Verunsicherung hat offenbar ihren biblischen Grund: Wenn man aus der Gnade herausfallen kann, dann scheint es ja noch keine ausgemachte Sache zu sein, dass Gott einen errettet und angenommen hat.

Was aber hat Paulus gemeint, als er den Galatern diesen Satz über das Gesetz und die Gnade schrieb?

Zunächst müsste man exakter übersetzen. Das Wort „aus“ steht nicht im Grundtext. In diesem Falle hat dann auch das Verb eine andere Bedeutung; es heißt: „etwas verlieren“. Unter bestimmten Voraussetzungen können Glaubende also das Geschenk Gottes – die Gnade – wieder verlieren. Welche Voraussetzungen sind das?

Paulus richtet sich im Galaterbrief an Christen, die zum Glauben gekommen sind, aber dann nachträglich noch eigene Leistungen hinzufügen wollen, um bei Gott anerkannt zu sein. Das bloße Glauben reicht ihnen nicht aus, es scheint ihnen nicht verlässlich genug zu sein. Sie halten zusätzlich noch Vorschriften ein, die Gott seinem Volk, den Juden gegeben hatte. Dabei waren die Christen aus Galatien mehrheitlich gar keine Juden.

Wer so etwas tut und zu Gottes Gnade sicherheitshalber noch eigene Leistung hinzufügen will, der ergänzt die Gnade nicht, sondern verliert sie. Das ist es, was Paulus warnend sagen will. Denn Gnade kann man nur ganz oder gar nicht annehmen.

Paulus wendet sich also nicht an unsichere, angefochtene Glaubende, sondern im Gegenteil: an allzu sichere Christen. Er meint niemanden, der in seinem Glauben auf schwankendem Boden steht, sondern er meint Leute, die ihren Glauben durch eine Extrakonstruktion stabilisieren wollen. Die laufen Gefahr, die Gnade zu verlieren.

Für unsichere oder zweifelnde Christen gilt eher das Pauluswort aus dem Philipperbrief (1,6): „Ich bin ganz sicher, dass Gott, der sein gutes Werk in euch angefangen hat, damit weitermachen und es vollenden wird bis zu dem Tag, an dem Christus Jesus wiederkommt.“

 

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Legenden über die Bibel: Die Rauchsäule

Von Dr. Ulrich Wendel

„Die Rauchsäule zeigt, was Gott gefällt“

Über die Bibel kursieren viele Ideen, die zwar populär sind, aber der Nachprüfung nicht standhalten: Maria Magdalena war eine Prostituierte, das „Nadelöhr“ war ein Stadttor in Jerusalem – und manches mehr…

Schon in der zweiten Generation der Menschheit passierte ein Mord. Kain erschlug seinen Bruder Abel. Die Szene gehört zu den bekanntesten Geschichten der Bibel: Kain, der Bauer, bringt einen Teil seiner Ernte als Opfergabe zu Gott. Abel, der Viehzüchter, macht es ebenso mit den erstgeborenen Schafen oder Ziegen seiner Herde. Gott nimmt das Opfer von Abel an, das von Kain aber nicht. Aus Neid und Zorn bringt Kain dann seinen Bruder um.

Wenn man versucht, sich die Szene plastisch vorzustellen, als die beiden Brüder ihre Gaben zu Gott bringen, dann erscheinen von dem inneren Auge ganz häufig ein oder zwei Altare. Dort lassen Kain und Abel ihre Gaben als Brandopfer in Rauch aufgehen. Und wer diese Geschichte im Kindergottesdienst gehört hat, der glaubt auch zu wissen, wie Kain erkennen konnte, dass Gott sein Opfer ablehnt: Während die Rauchsäule von Abels Opfer schön senkrecht aufsteigt, qualmt Kains Opfer vor sich hin und der Rauch verweht.

Ein so klares Erkennungszeichen dafür, was Gott gefällt, wäre vielleicht praktisch. Es würde uns auch helfen, diese biblische Geschichte besser zu verstehen. Aber die Sache mit der Rauchsäule steht schlicht so nicht in der Bibel.

Brandopfer – hier nicht!

Die Nacherzählungen der Bibel und die Illustratoren haben sich vielleicht davon anregen lassen, dass Gott bei anderen Brandopfern schon mal eingriff und anhand des Feuers klarmachte, wie er dachte. So wurde das Brandopfer Elias von Gott selbst entzündet, mit Feuer, das vom Himmel fiel (1. Könige 18,38). Das Fleisch und das Brot, das Gideon einem Boten Gottes vorsetzen wollte, wurde ebenfalls von Feuer verzehrt, als der Engel mit seinem Stab daran tippte. Hier schlug die Flamme vom Felsen zum Himmel empor (Richter 6,21). Und als die Eltern von Simson ein Brandopfer brachten, fuhr der Engel Gottes in der aufsteigenden Flamme aufwärts (Richter 13,20). All das waren Momente, in denen Gott sich zu erkennen gab.

Bloß: Bei Kain und Abel ist überhaupt nicht von einem Brandopfer die Rede, und auch einen Altar findet man im Bericht nicht. Im hebräischen Text steht einfach „Gabe“ – ein Wort, das später auch für eine Opfergabe verwendet wurde, aber sonst einfach „Dankgeschenk“ heißt.

Auf der Suche nach dem Erkennungszeichen

Wie haben die beiden dann erkannt, dass der eine von Gott angenommen, der andere aber abgelehnt wurde? Hier gibt es verschiedene Antwortversuche. Das Nächstliegende scheint zu sein, dass Abel später einen guten Ertrag seiner Herden hatte, Kain aber keine guten Ernten. Segen war im Alten Orient und im Alten Testament oft materiell erfahrbar. Die Szene von 1. Mose 4 hätte sich dann nicht innerhalb einer Stunde abgespielt, sondern zwischen Opfer und Mord hätte eine längere Zeit gelegen. Andere suchen die Erklärung in einer inneren Gewissheit der Opfernden. Abel hätte demnach irgendwie gespürt, dass er bei Gott willkommen war – vielleicht an der ungetrübten Freude, die er beim Opfern hatte. Kain hätte diese Freude gefehlt; vielleicht tat es ihm Leid um die schönen Feldfrüchte, die er da aus der Hand gab. Und dass solcher Missmut von Gott abgewiesen würde, das kann ihm dann klar geworden sein.

Diese Deutungsversuche zeigen: Man will etwas erklären, das die Bibel eben gerade nicht erklärt. Aus diesem Bedürfnis, vermeintliche Lücken im Bericht aufzufüllen, kommt wohl auch die Vorstellung von der senkrecht aufsteigenden Rauchsäule. Viele Bibelleser merken beim Lesen kaum, dass sie etwas „sehen“, was da gar nicht steht, das Feuer und die Altäre zum Beispiel.

Gott sieht das Herz an

Oft überlesen wird auch eine andere Einzelheit: wen oder was Gott denn genau wohlwollend ansah und wen oder was Gott ablehnte. Es war nicht das Opfer, mit dem bei Kain etwas schief lief. Gemeint ist nicht, dass seine Feldfrüchte nicht wertvoll genug gewesen wären, und auch nicht, dass Gott nur solche Opfer gemocht hätte, die mit Blutvergießen einhergehen (ja, auch so deuten einige diese Geschichte: Kains Fehler sei gewesen, dass er Gott ein unblutiges Opfer angeboten hätte)!

In Wirklichkeit sagt der biblische Bericht: „Der Herr blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.“ Gott interessiert sich also nicht für die Sache, sondern für die Person. „Der Herr sieht das Herz an“ (1. Samuel 16,7) – dieser Grundsatz ist schon auf den ersten Seiten der Bibel gültig. Was Gott an Kain auszusetzen hat und was ihm an Abel gefällt, das bleibt wieder im Unklaren. Auch hier füllen Leser und Ausleger gern die Lücke auf – zum Beispiel damit, dass Kain von vornherein neidisch auf Abel gewesen wäre. Aber auch das steht nicht im Bericht. Und Neid hätte ja allenfalls erst nach dem Opfer aufkommen können – nachdem Kain merkte, dass er zurückgesetzt worden war. Der Hebräerbrief sagt im Rückblick, Abel habe im Glauben geopfert, er habe Gott also vertraut. Vielleicht war dies der „Vorsprung“ von Abel (Hebräer 11,4).

Religion und Glaube

Äußerlich ist aber kein Unterschied erkennbar. Beide Männer kommen zu Gott und geben ihm etwas. Genau dies ist ja die Definition von Religion: Menschen suchen Gott und leisten etwas für ihn. Glaube im Sinne der Bibel ist gerade das Gegenteil: Gott sucht die Menschen und erwartet, dass sie sich einfach auf ihn verlassen. Der Unterschied zwischen Religion und Glauben ist von außen meist nicht erkennbar. Er wird auch im Bericht von 1. Mose 4 nicht aufgezeigt. Nur Gott hat den Durchblick.

Legenden über die Bibel wollen manchmal die biblischen Texte leichter fassbar machen. Sie tragen eine Anschaulichkeit hinein, die nicht alle Texte in sich haben. Für Bibelleser ist es immer eine gute Übung, das sehen zu lernen, was da steht. Das zu erkennen, was da nicht steht. Und manchmal die Schroffheit der biblischen Texte auszuhalten.

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