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Vom Problemkind zum Retter

Rüdiger Jope

Mose und die Wandlung in seinem Leben

Bei biografischen Filmen fiebere ich manchmal noch bis zum Abspann im Kinosessel mit den Helden mit. In 4. Mose 12,3 blendet uns die Bibel auch eine letzte Szene ein. Dort werden Mose heftige Vorwürfe gemacht. Und wie reagiert er? „Mose schwieg dazu. Er war ein zurückhaltender Mann, demütiger als alle anderen Menschen auf der Welt.“ Wow, was für eine charakterliche Veränderung im Gegensatz zu seiner impulsiven Tat etwa vierzig Jahrefrüher …

ZWISCHEN TATORT UND ROSAMUNDE PILCHER

Mose – was war das für ein Mensch? Was steckte hinter dem geistlichen Leiter, dem Mann Gottes, dem willensstarken Menschen, dem Siegertypen? Moses Leben steht bereits kurz nach dem Start vor dem Absturz (2. Mose 2 ff.). Zu den Wildgänsen in der Turbine seines Lebens wird der Befehl des Pharaos: Bringt alle Jungen um! Die Mutter hält den Jungen vermutlich im Verbund mit den Hebammen versteckt. Doch irgendwann lässt sich das Plappern, Krabbeln und Leben dieses lebendigen Kerls nicht mehr verbergen. Der Mutter wird es zu heiß. „Lieber Ehemann, wir müssen eine Lösung finden.“ Die Reaktion des Vaters? Fehlanzeige! In der Präsentation des Stammbaumes in Kapitel 1 sind die Männer noch dicke da, aber wenn es schwierig wird, dann heißt es damals wie heute: Kümmere du dich um die Plagen, ich gehe Pyramiden bauen. Der Mann ist abwesend. Die Mutter muss die unbequeme Entscheidung allein

treffen. Zur Babyklappe wird ein Korb aus Schilfrohr. Dieser wird im Nil abgesetzt. Der Mutter zerreißt es das Herz. Sie kann das Elend nicht mit ansehen und lässt die Schwester als Babysitterin da … Zufällig ist es ein heißer Tag. Die Königstochter hat Lust auf eine Abkühlung. Im Schilf entdeckt sie die seltsame Brüllkiste. Ihre Dienerinnen machen sich nass. Das Körbchen wird geöffnet. Der weinende, nach Luft ringende Säugling lässt in der gelangweilten Prinzessin einen Funken von Menschlichkeit aufglimmen: „Ach, wie süß!“ In einer Art sozialromantischen Anwandlung oder einem spätpubertären Anfall „Jetzt-zeige-

ich-dem-alten-Herrn-im-Palast-mal, dass-ich-anders-bin!“, lässt sie das Ausländerkind am Leben. Sie adoptiert ihn. Die Windelwechselzeit, die schlaflosen Nächte etc. delegiert sie an die zufällig vorbeilaufende Schwester des Mose. Moses Lebensstart hat von allem etwas: Tatort und Rosamunde Pilcher. Ungewollt! Vaterlos! Versteckt! Ausgesetzt! Todesangst! Am Absaufen! Nach Luft schnappend! Jeder im Palast sah sofort: Das ist kein Kind der Königin. Das ist ein Adoptivkind! Noch dazu ein ausländisches.

DAS TRAUMA BEKOMMT EINEN NAMEN

Moses Start ins Leben würde man heute als frühkindliches Traumata bezeichnen. Augenfällig wird das Trauma besonders im Namen: Das Kind hat keinen, zumindest ist er uns nicht überliefert. Als das Kind aus dem Gröbsten raus ist und von seiner Mutter im Palast abgeliefert wird, bekommt er einen ägyptischen Namen verpasst: Mose – der aus dem Wasser Gezogene (2. Mose 2,10). Was für ein Makel! Mose war sicher alles andere als begeistert, wenn es hieß: „Aus-dem-Wasser-gezogen – bitte reinkommen zum Essen“ oder „Vor an die Tafel“. Der Name ist ein Makel. Das ist kein Adels- und Schönheitsprädikat. Mit diesem Namen wird der Junge jedes Mal an seine ungewollte Herkunft erinnert. Dieser Name prägt Moses Sein. Ja, die inneren Wunden, die uns zugefügt wurden, die Makel, die über unserem Leben ausgesprochen wurden, können wehtun und schmerzen. Doch an Mose wird deutlich: Die Verletzung trägt auch den Kern eines großartigen Retters in sich. Gott hat nämlich die Größe, sich für seine Rettungspläne die herauszugreifen, die offensichtlich einen Sprung in der Schüssel haben, die erniedrigt wurden, die sich zerrissen und unheil vorkommen. Die Heils- und Heilungsgeschichte Gottes kann aus dem „Aus-dem-Wasser-Gezogenen“ einen „Aus-dem-Wasser-Zieher“ machen!

DIE CHANCE DES ERSCHRECKENS

Irgendwann macht es bei dem jungen Mann Klick. Er erkennt: Ich bin zwar als Ägypter erzogen, aber von der Hautfarbe, vom Denken und vom Sein bin ich ein Hebräer! Er identifiziert sich schließlich mehr mit den Unterdrückten als mit den Unterdrückern. Auf einer Baustelle kommt es zum Knall. Sein Kindheitstrauma, sein Frust, seine Zerrissenheit brechen sich in einem unreifen Konfliktverhalten Bahn. Mose tickt aus. Er erschlägt einen Ägypter. Damit kegelt er sich auf zweifache Weise ins Abseits: Er verliert seinen Status als Adoptivsohn, und die, für die er glaubte zu kämpfen, entgegnen dem Rächer der Entrechteten: „Bist du unser Aufseher und Richter? Willst du mich jetzt auch umbringen wie gestern den Ägypter?“ (2. Mose 2,14)

Mose stürzt ab. In der Gunst der Ägypter und der Hebräer. Er wollte das Gute, doch heraus kam das Schlechte. Er erschrickt und er muss fliehen. Er rastet schließlich an einem Brunnen. Im Alten Orient der Mittelpunkt des sozialen Lebens. Die Aus- und Reifungszeit bedeutet nicht, abzutauchen ins Abseits, sondern sich gerade in den Alltäglichkeiten, im Normalen neu zu bewähren. Jetzt gilt es, selber Wasser zu schöpfen, anderen das Wasser zu reichen. Dort im Vollzug des Alltags reift der Charakter nach. Hier am Brunnen tritt er wieder als Beschützer der Unterdrückten auf. Aber diesmal ganz anders. Nicht mehr sein Ego, sein Bedürfnis, seine unverarbeitete Geschichte steht im Vordergrund, sondern der andere, die anderen. Die Konfliktbewältigung geht diesmal ohne einen Toten vonstatten. Im Gegenteil: Mose fliegen die Herzen zu. Es scheint, als wäre Gott im Geheimen bereits dabei, Moses Wesen und Temperament für dessen Lebensaufgabe, die Befreiung seines Volkes aus der Sklaverei, vorzubereiten.

VOM HERAUSGEZOGENEN ZUM HERAUSZIEHER

Mose arbeitet an sich und lässt an sich arbeiten. In der Mitte und Hitze des Lebens reift er zum Retter. Der Spottname „Der aus dem Wasser Gezogene“ wandelt sich hin zum „Der andere aus dem Wasser zieht“. Gott verwandelt die Defizite in Stärken. Nun heißt es über ihn: „Er war ein zurückhaltender Mann, demütiger als alle anderen Menschen auf der Welt.“ Mose wird ein anderer – nicht von heute auf morgen, sondern in 40 Jahren. In der Gestalt des Mose fordert Gott bis heute Männer heraus: Lass dich auf einen Umgestaltungs- und Erneuerungsprozess ein,denn irgendwo erschallt ein „Wehklagen“ (2. Mose 2,24) auf dieser Welt, in das Gott dich als seinen Helden senden möchte.

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Wenn Kreative sich treffen

Anna Maria Gerlach

Im Februar fand am Vorabend der Missionale ein Atelier statt. Aus ganz Deutschland kamen Mitarbeitende origineller Projekte nach Köln, um sich zu vernetzen.

Es ist Freitagabend. Draußen wird es bereits dunkel, doch beim Missionale Atelier denkt noch lange keiner ans Zubettgehen. Hier drinnen herrscht ein reges Treiben: Etwa fünfzig Menschen tummeln sich in dem großen, schlichten Raum im Innovationshaus „Solution Space“, mitten in der Kölner Innenstadt. In kleinen Grüppchen stehen die Teilnehmenden des Ateliers an Stehtischen und unterhalten sich angeregt. Es wird gelacht, diskutiert, sich ausgetauscht. So mancher bedient sich noch einmal am Käsebuffet – das muss heute noch leer werden. Manche sitzen auch an den zwei Tischreihen oder ums Eck auf den grünen Stühlen, die ein bisschen schief hintereinander in Reihen aufgestellt sind. Der ein oder andere Stuhl steht umgedreht, als hätte hier gerade eben noch eine kleine Gruppe im Kreis gesessen.

Frustration gehört dazu

Mit einer guten halben Stunde am Käsebuffet beginnt der Abend. Man beschnuppert sich, trifft bekannte und unbekannte Gesichter. Dann ein Vortrag als Einstieg ins Thema: Frustration. Frank Berzbach nimmt in einem schicken Vintage-Sessel Platz – das passt zu diesem stilvollen Mann: Seine blonden Haare trägt er in einer hippen Frisur mit Seitenscheitel, an den Handgelenken schaut ein Tattoo unter den Ärmeln des schlichten Hemds hervor. Kleine Stecker zieren seine Ohren; dazu ein schwarzes Sakko über dem weißen Hemd. Er spricht ruhig und bedacht, das Skript liegt auf seinen übereinander geschlagenen Knien. Immer wieder schiebt er die runde Brille nach oben. So ganz einordnen kann man ihn nicht. Er unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln und publiziert über Kreativität, Mode, Spiritualität. Kein Hauptamtlicher der Kirche, nicht einmal Mitglied der Evangelischen Kirche im Rheinland, die das Atelier veranstaltet. Das irritiert.

Und doch passt es irgendwie. Er spricht über kreative Prozesse, teilt seine ganz eigenen Gedanken darüber, wie man mit Frust umgehen kann. Hier beim Atelier treffen sich Pioniere, Kreative und Neudenker der Kirchen. Menschen, die ehrenamtlich und hauptamtlich in ihren Gemeinden mitarbeiten. Menschen, die sich manchmal alleine fühlen, die manchmal frustriert sind, die aber nicht aufgeben wollen.

Das Außenseitertum sollen sie feiern, so tun, als gäbe es keine Bremser. „Gesunde Intoleranz“ nennt Berzbach das. Denn umgesetzte Kreativität wirkt immer als Traditionsunterbrecher. Da gehört ein bisschen Größenwahn dazu; und Unzufriedenheit. Wären alle zufrieden, bräuchte es keine neuen Ideen. Wer in seiner Kirche etwas verändern und weiterentwickeln will, muss also mit Frust rechnen. Doch Berzbach bleibt nicht dabei, sondern erzählt auch davon, wie er selbst damit umgeht. Von seinen Krisen und den Nischen, die er sich dann sucht, um seine Kreativität auszuleben. „Kreativität ist an Einsamkeit, Still-Sein, Konzentration gebunden.“ Der Satz ruft Widerspruch hervor: Was ist mit den Teamsitzungen und Brainstormings? In der Kirche braucht man sich doch gegenseitig. Die Teilnehmenden ergänzen sich in ihrer Kritik, Berzbach geht darauf ein, eine Diskussion entsteht.

Austausch, Ermutigung und Coaching

Genau darum soll es heute Abend gehen: Gespräch, Austausch, Diskussion. Während Janik Lill gegenüber der grünen Stühle im Bühnenbereich an seinem Keyboard sitzt und den Abend mit Musik untermalt, ist Zeit, um sich gegenseitig zu inspirieren und zu vernetzen. Viele der Teilnehmenden sind bereits involviert in innovative Projekte; sie erzählen begeistert vom eigenen Instagram-Account der Kirchengemeinde oder vom ehrenamtlich betriebenen Café. Andere wünschen sich Ideen, Ermutigung und Motivation, um etwas völlig Neues zu starten oder einfach die altbekannte Konfirmandenarbeit aufzupeppen.

Neben dem Buffet ist eine Leine gespannt. Ohne Erklärung stecken dort Bambusstangen in zwei Töpfen, dazwischen sind Schnüre gespannt: ein, zwei Postkarten, festgehalten von Wäscheklammern, hängen daran. Mehr noch nicht. Im Laufe der Zeit füllt sich die Leine. Gegen 22 Uhr hängen dort neon-grüne Karten aus Pappkarton – vier Millimeter dick – im Postkartenformat. Sie sind beschriftet mit den Projekten der Teilnehmenden. Auch auf den Tischen liegen einige der leuchtenden Karten – manche sind noch leer, auf anderen haben sich die Leute fleißig Notizen gemacht.

Wer den in grün und weiß gehaltenen Raum verlässt und durch den Flur in den benachbarten Raum geht, findet dort Bob und Mary Hopkins. Sie sind schon sehr lange in der Erneuerungsbewegung der Church of England unterwegs und bieten Coaching-Gespräche an. In einem Halbkreis sitzen etwa fünfzehn der Besucher rund um die beiden und lauschen gebannt ihren Tipps und Erzählungen.

Mit einer Andacht klingt der Abend aus. Man verteilt sich im Raum, kommt zur Ruhe, hört zu. Da ist die Rede von Moses und seinen Momenten der Frustration. Die Diskussionen sind verstummt; stattdessen liegt eine nachdenkliche Atmosphäre im Raum. Allmählich brechen nach dem Segen alle auf: Ermutigt und voll neuer Hoffnung verabschieden sie sich in die Nacht.

Sebastian Baer-Henney, Veranstalter und Organisator des Ateliers, ist zufrieden. Schon vor einem Jahr entstand die Idee für dieses Format. Die Veranstalter der Missionale wünschten sich, mehr Menschen zu erreichen, die mitten im kirchlichen Aufbruch stecken. Für sie schien das bestehende Konzept der Missionale nicht mehr ganz zu passen. Die Grundidee des Ateliers knüpft genau daran an: Anstatt sich nur frontal berieseln zu lassen, lebt es davon, dass die Teilnehmenden miteinander ins Gespräch kommen. Und das ist gelungen. Für bis zu hundert Teilnehmende war die Veranstaltung gedacht, fünfzig sind gekommen. Trotzdem: Wer hier war, geht ermutigt und inspiriert nach Hause.

Dieser Artikel erschien in 3E. Jetzt kostenlos testen: www.magazin3e.net

Stein für Stein

von Pascal Görtz

Hätte ich früher gewusst, wie sehr Räume mein Leben prägen, wäre ich Architekt oder Stadtplaner geworden. Ich liebe es, mich auf offenen Plätzen selbst wahrzunehmen, Häuserschluchten mit Jugendstilfassaden abzulaufen, die Spuren anderer Stadtbewohner im Straßenbild zu entdecken. Aber auch hohe Decken, Stadtgärten und schwer einsehbare Dachterrassen. Und Charakterecken, von denen nur wenige Notiz nehmen. Die Neugierde treibt mich. Das alles ist verbaute Sehnsucht nach Freiheit oder Größe oder Gemeinschaft oder einer besseren Zukunft. Die Gesichter unserer Städte tragen zutiefst menschliche Züge.

Als Christen haben wir naturgemäß ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Form von „Menschlichkeit“. In Städten begegnen wir einer Kultur, die uns in manchem nahekommt, in vielem aber fremd ist. Als Bürger der zukünftigen Welt erleben wir uns als Fremde in der Diaspora. Wir sehen Menschenverachtendes, strukturelle Sünde, Egoismen, die unverheilten Brüche des Lebens auf engstem Raum. Gleichzeitig ist Flucht keine Option: Als christliche Gemeinschaften können wir dem Blick des Nächsten kaum ausweichen. Deshalb ist es nur logisch, wenn sich Gemeinden fragen, wie sie das Evangelium innerhalb der Kultur ihrer Städte zum Strahlen bringen können.

Verändere deine Stadt! Das ist kein Aufruf zum Starksein. Nicht aus uns selbst heraus, nicht als Selbstzweck werden wir die Kultur verändern. Sondern als Erlöste, die zu lieben gelernt haben, weil sie von Gott Liebe erfahren haben.

Schauen wir unseren Städten ins Gesicht – und krempeln dann die Ärmel hoch.

Stein für Stein eine neue Stadt.

Dieser Kommentar erschien in DRAN NEXT, dem Magazin zum Selberglauben. Jetzt kostenlos testen: www.dran-next.de

 

Mehr im Hier und Jetzt

Von Marietta Steinhöfel

Von der Kunst des Beobachtens

Unsere Gedanken sind überall und nirgendwo – bei dem, was gestern war, und morgen sein könnte. Wann sind wir einfach mal nur da? In diesem Moment? Warum es sich lohnt, wahrzunehmen, was gerade ist.

Beim Blick in die Zeitschriftenläden oder manche Arztpraxis, fällt auf: Wir werden ermuntert, achtsamer zu sein. Was hat es damit auf sich? Wieder ein neumodischer Gesundheitstrend? Als Synonyme für Achtsamkeit werden im Duden Aufmerksamkeit, Augenmerk, Interesse, Konzentration, Sammlung und Teilnahme genannt.

Interessant. Lassen wir uns doch auf ein Gedankenexperiment ein. Durchleuchten wir einmal unseren Alltag und fragen uns: Wie oft am Tag erwischen wir uns dabei, aufmerksam, konzentriert und wachsam, zu sein? Wann nehmen wir teil an dem, was wir gerade tun? Es ist schon halb vier und noch immer ärgert sich Harald über den unfreundlichen Busfahrer am Morgen. Die schweren Einkaufstaschen einige Zentimeter über dem Boden schleifend, mit gesenktem Kopf an den Geschäften vorbeitrottend, fragt sich Ilse, warum eigentlich nicht sie die Wohnung in der Stadtmitte bekommen hat. Hanna sitzt am Küchentisch über ihrem Mittagessen. Wie es wohl werden wird, wenn ihr Mann nächsten Monat aus dem Beruf scheidet? Die drei sind gedanklich und emotional abwesend. Beschäftigt mit dem was war, und noch kommt – eventuell. Der Kontakt zur Gegenwart reißt ab.

Achtsamkeit kann trainiert werden

Es ist nicht verkehrt, über Vergangenes nachzudenken und daraus Handlungslinien für die Zukunft abzuleiten. Das Problem liegt im Grübeln und Sorgen. „Wer ständig beschäftigt ist, läuft Gefahr die Gegenwart zu verpassen“, sagt Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut an der Klinik Hohe Mark in Oberursel.

Im Hier und Jetzt zu sein, den Moment wahrzunehmen und wertzuschätzen: Das bedeutet, achtsam zu sein.Vielen älteren Menschen gelingt das sehr gut. Vorausgesetzt, sie haben es eingeübt, meint der Psychiater: „Wer sein Leben lang nicht gelernt hat achtsam zu sein, wird es im Alter auch nicht können.“ Um achtsamer zu werden, lassen sich Phasen in den Tagesablauf einbauen, in denen man das bewusste Wahrnehmen einübt. Unterwegs in die Stadt lohnt sich ein Blick an den Wegesrand, wo eine Löwenzahnpflanze aufgeblüht ist. Bei näherem Hinsehen fällt auf, wie saftig das Grün ist, und wie schön die Blüten aussehen. In Momenten wie diesen, ist man achtsam. Die Sinne zu schärfen ist eine Komponente von Achtsamkeit. Die zweite, so Grabe, sei die Schöpfung wahrzunehmen. Die Welt um uns herum, wie uns selbst. Im Büro könne das sein, einmal zu prüfen, ob man bequem sitzt und die Haltung gegebenenfalls zu korrigieren.

Achtsamkeit in der Bibel

Auch wenn die Bibel nicht explizit von „Achtsamkeit“ spricht, zeigt sie doch auf, dass es wichtig ist, geistig anwesend zu sein:

  • Achtsamkeit als Aufmerksamkeit. Der Samariter, der nicht einfach am geschändeten Mann am Wegesrand vorbei geht – der sieht (Lukas 10,30-37).
  • Achtsamkeit als Offenheit. Jesus, der dazu aufruft, wie die Kinder zu sein: empfänglich, offen, interessiert, neugierig (Matthäus 18,3).
  • Achtsamkeit als Wachsamkeit. „Haltet euch bereit und seid wach“, heißt es im Lukas-Evangelium. Im Kontext (Lukas 12, 35-40) geht es um viel: das Wiederkommen des Herrn, das Erettetwerden.
  • Achtsamkeit als Vorsicht. Im Gleichnis von den zehn Brautjungfern (Matthäus 25,1-13) werden jene Frauen belohnt, die klugerweise zusätzliches Öl für ihre Öllampen mitgenommen haben. Als die Nacht hereinbricht, und der Bräutigam endlich kommt, sind die anderen Brautjungfern, die neues Öl kaufen mussten, nicht anwesend.

„Sorgt euch nicht“, sagt Jesus im Matthäus-Evangelium. Und genau darum geht es beim Achtsamsein. Nicht im Groll der Vergangenheit bleiben, oder sich um die Zukunft sorgen. Sondern im Hier und Jetzt zu leben.

Dieser Artikel erschien im Magazin LebensLauf. Jetzt kostenlos testen: www.lebenslauf-magazin.net

Den Dank-Tank wieder füllen

Von Martin Gundlach

Wer sich dafür entschieden hat, dankbar zu leben, braucht Orte, um diesen Lebensstil frisch zu halten. Aber wo sind diese Auftank-Orte zu finden?

Wer ein dankbarer Mensch werden will, trifft eine grundsätzliche Entscheidung dafür, diesen Weg zu beschreiten. Diese Entscheidung ist die Voraussetzung für Veränderung. Klingt einfach, ist es aber nicht.

Denn das ist nicht die ganze Wahrheit. Der Alltagstest zeigt (zumindest bei mir): Der Danke-Lebensstil ist flüchtig. Zumindest mir wurde eine Haltung der Dankbarkeit nicht in die Wiege gelegt. Kaum jemand entscheidet sich einmal dafür, ein dankbarer Mensch zu sein – und bleibt es dann einfach für den Rest seines Lebens.

Es ist beim Danken ähnlich wie beim Laufen oder Autofahren: Ist der „Dank-Tank“ voll, dann ist man damit eine Weile gut unterwegs. Aber irgendwann ist der Tank leer. Der Blick, der eben noch auf die Geschenke Gottes in unserem Leben gerichtet war, sieht plötzlich wieder die herumliegenden Socken der Kinder und die Bartstoppel-Reste des Göttergatten im Waschbecken. Dann wandern die Gedanken zur kranken Freundin und hin zur weltweiten Ungerechtigkeit. Der Ärger über den bornierten Kollegen steigert noch den Unmut über die Überforderung am Arbeitsplatz. Dankbar? Jeder von uns kennt die Momente, in denen einem zu allem anderen zumute ist, nur nicht zum Danken. Und solche Momente, Menschen und Situationen wird es immer geben.

Es gibt zwei gute Möglichkeiten, den leeren Dankbarkeits-Tank aufzufüllen. Die eine ist ruhig und findet eher in der Einsamkeit und Stille statt. Die andere vollzieht sich in Gemeinschaft und ist mit mehr Lautstärke verbunden. Die eine Form ist der Rückzug, die andere Möglichkeit ist das Zusammensein mit anderen.

Ich glaube, dass den meisten von uns dabei eine der beiden Tankstellen typmäßig näher liegt. Die eine freut sich seit Wochen auf die Stille-Tage. Die andere ist froh, wenn es nicht zu ruhig wird. Der eine freut sich auf einen lauten Lobpreis-Abend, der andere ist glücklich, wenn er abends keinen Menschen mehr sehen muss und im Rückzug und Alleinsein auftanken kann.

 

Den Tank füllen: Rückzug in die Stille

Christen aller Jahrhunderte haben sich in die Stille zurückgezogen. Von den Wüstenmönchen im 6. Jahrhundert bis hin zu den Stille-Tagen, die heute auch wieder viele christliche Freizeitveranstalter anbieten, gibt es eine lange Tradition. Im Neuen Testament lesen wir: Jesus selbst zog sich immer wieder aus dem Trubel zurück, um in der Stille Kraft zu schöpfen.

Am nächsten Morgen ging Jesus allein an einen einsamen Ort, um zu beten. Später suchten ihn Simon und die anderen. Als sie ihn gefunden hatten, sagten sie zu ihm: „Alle fragen nach dir.“ Doch er entgegnete: „Wir müssen auch in die anderen Städte gehen, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.“  Markus 1,35-38 (NLB)

Zwischen zwei herausfordernden Tagen ging Jesus in die Stille, um zu beten. Das tat er nicht aus pädagogischen Gründen. Um ein „gutes Vorbild“ zu sein nach dem Motto: „Schaut her, so sollt ihr das auch machen!“ Nein, er verschwindet eher heimlich, still, unauffällig und leise. Die Jünger mussten ihn erst suchen.

„Wo ist Jesus?“

„Keine Ahnung.“

„Dann ausschwärmen und suchen.“

Irgendwann finden sie ihn. Leicht vorwurfsvoll klingt es, wenn sie sagen:

„Alle suchen nach dir!“

Sie meinen: „Wo bist du? Was tust du? Wir haben doch noch viel vor!“ Jesus geht auf diesen Vorwurf gar nicht ein. Er hat in der Stille Kraft getankt. Jetzt ist er wieder voller Tatendrang:

„Wir müssen los, in die anderen Städte …“

Er weiß: Wer sich für andere einsetzen will, wer anderen helfen will, der braucht die Besinnung, den Rückzug.

Ähnliche Szenen finden wir im Neuen Testament immer wieder: Jesus allein an abgeschiedenen Orten. Dann wieder unterwegs und in Aktion. Stille. Trubel. Stille. Trubel. Es ist fast ein Takt zwischen Aktion und Ruhe zu erspüren im Wanderleben von Jesus.

Um ehrlich zu sein: Wir wissen nicht, wie Jesus diese einsamen Zeiten gestaltet hat. Aber offensichtlich ist: Er braucht die Ruhe. Er braucht das Alleinsein. Im Rückzug findet für ihn eine Konzentration auf das Wesentliche statt, ein Zurechtrücken der Prioritäten, Gottesbegegnung. Daraus kommt die Kraft für alles Weitere.

Ich will mich nicht mit Jesus vergleichen, aber die Erfahrung kenne ich auch. Wenn ich morgens zur Arbeit fahre und in Ruhe über den gerade begonnenen Tag nachdenke, anstatt Radio zu hören, in frühmorgendlicher Muffel-Laune vor mich hin zu nörgeln oder schon in Gedanken die ersten Fragestellungen aus meinem Büroalltag zu klären. Dann werde ich dankbar: für meine Frau, für meine Arbeitsstelle, für die Tatsache, dass ich lebe, mich bewegen kann, für meine Kinder, für die Großzügigkeit Gottes und und und… Dass ich all das erleben darf! Dass ich all diese Menschen kennen darf. Mit ihnen leben darf. Dass Gott so gnädig ist… Solche ruhigen Zeiten geben dem Tag ein völlig anderes Lebensgefühl, in dem Dankbarkeit unaufhaltsam wächst.

 

Den Tank füllen: in der Gemeinschaft

Für viele füllt sich der Dank-Tank eher in gemeinsamen Aktivitäten. Die können ganz unterschiedlich aussehen, haben aber eines gemeinsam: dass ich mich auf Augenhöhe und mit einem offenen Herzen mit anderen zusammentue.

Gemeinsam beten

Immer brauchen wir die anderen, die uns dabei helfen, die Danke-Spur zu halten. Alleine hängen wir vielleicht trüben Gedanken nach – und benötigen andere, um den Kopf wieder hoch zu bekommen. Das Beten ist manchmal einfacher, wenn wir es gemeinsam tun. Denn dann bleiben wir nicht nur bei uns und unserer Sicht, sondern können uns von den anderen inspirieren, ermutigen und mitnehmen lassen. Denn das Dankgebet des anderen hilft auch mir zum Danken – und umgekehrt.

Gemeinsam singen

Gerade Musik und Gesang sind eine wunderbare Form, gemeinsam unsere Dankbarkeit Gott gegenüber auszudrücken. Lieder helfen uns, eine Haltung der Dankbarkeit zu üben und sie zu bewahren.

Danke-Lieder haben eine lange Geschichte. Die Bibel ist voll von Lob-Psalmen, mit denen der einzelne oder die singende Gemeinde ihre Dankbarkeit Gott gegenüber ausdrückt. Immer und immer wieder wurden diese Lieder gesungen, weil man immer und immer wieder die Erinnerung brauchte und auch die Erfahrung machte: Es gibt so viele Gründe, Gott zu danken. „Danke, für alles, was du gibst, Herr!“

Gemeinsam etwas tun

Für manche ist es auch das Größte, gemeinsam mit anderen etwas zu tun. „Wie schön ist es, wenn wir gemeinsam etwas auf die Beine stellen!“ Gemeinsam einen Umzug stemmen, bei Freunden im Haus helfen, mit einer Gruppe eigener und fremder Kinder in den Zoo fahren. In der Gemeinschaft entwickelt sich Freude. Wer anderen hilft, hat am Ende müde Knochen, aber meistens ein dankbares, zufriedenes Grundgefühl:  Wir haben etwas Sinnvolles geschafft und vielleicht noch eine positive Rückmeldung bekommen.

Freiwillige aus den unterschiedlichsten Hilfsorganisationen sagen: „Die Menschen, denen wir geholfen haben, waren unendlich dankbar. Aber am meisten beschenkt waren wir, die wir ihnen geholfen haben.“ Andere freuen sich, wenn sie Geld zusammen bekommen haben, um Menschen in Not zu helfen oder eine besondere Freude zu machen. Das muss nicht immer etwas Spektakuläres sein. Einem Kind aus der Nachbarschaft bei den Hausaufgaben helfen, einen anderen zu einem schwierigen Arzttermin begleiten, sich gemeinsam um vernachlässigte Menschen kümmern – auch das sind wichtige Dinge.

Gemeinsam feiern

Die großen Dank-Feste Israels waren Gelegenheiten, sich zu freuen, sich an Gottes Heilshandeln zu erinnern und es zu feiern. Für die Israeliten war klar: Erinnern an die Gottestaten in der Vergangenheit und das Danken gehören zusammen.

So auch bei uns: Spontane Feste, lang geplante Feiern. Geburtstage, Feste im Kirchenjahr, Jubiläen, Hochzeitstage – das sind Erinnerungsorte, an denen wir uns bewusst machen können: Gott war mit uns – und er wird auch in Zukunft mit uns sein. Der Blick zurück bewirkt Dankbarkeit. Wir feiern das Gute, das uns widerfahren ist. Und schöpfen daraus Mut und Kraft für die Zukunft.

 

Leise oder laut?

Wie füllen Sie Ihren Dank-Tank auf? Eher in der Stille? Oder eher in der Gemeinschaft? Jedem Menschen liegt vielleicht einer der beiden Wege vom Typ her näher: Manche lieben es, alleine zu sein und müssen sich zu gemeinsamen Aktionen erst aufraffen. Andere lieben die Gemeinschaft, können aber mit Alleinsein oder Einsamkeit zunächst mal nichts anfangen. Und natürlich hat das auch etwas mit der persönlichen Lebenssituation und den Möglichkeiten zu tun. Das ist normal, das ist okay, diese Unterschiede zeichnen uns als Menschen aus.

Aber ich merke: Über die Länge der Zeit brauche ich beides. Und vielleicht profitiere ich am Ende vor allem in dem Bereich, der mir zunächst einmal fremd scheint. Als eher „lauter“ Typ taste ich mich also gerade an die Stille heran…

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Family.  Jetzt kostenlos testen: www.family.de

Weggeben!

Von Martin Gundlach

Wir haben ein kleines Haus und wenig Platz für Überflüssiges. Trotzdem staut sich bei uns eine Menge, in den Regalen, auf Schränken und in den Zimmerecken. Gerade merken wir, wie befreiend es ist zu entrümpeln. Kaputte und wertlose Dinge zu entsorgen und gut erhaltene an Menschen weiter zu geben, die sie richtig gut gebrauchen können. Wir haben das Gefühl, dass mit dem gewonnenen Platz auch Raum für neue Gedanken entsteht – und dass wir so manche verschütteten Dinge oder Themen überhaupt erst wieder in den Blick bekommen. Deshalb an dieser Stelle zwei Anregungen aus den beiden letzten Wochen.

  • Leben Sie nicht in der Vergangenheit! Hoffen Sie nicht, dass Ihre Kinder irgendwann einmal die alten vergilbten Reclam-Hefte lesen wollen. Ihr altes Telefon reaktivieren? Das Geschirr von Oma übernehmen? Ja, ein oder zwei Nostalgiestücke sind okay. Trennen Sie sich vom Rest. Klamotten, aus denen die Kinder herausgewachsen sind, Spielzeug, mit dem keiner mehr spielt. Weg damit, wenn Sie es nicht mehr brauchen. Es gibt ganze Regale voller Literatur, wie befreiend dieser Schritt ist. Ich weiß das – und trotzdem tue ich mich oft überraschend schwer mit dem Weggeben.
  • Für uns gibt es zwei Optionen: Die schönen Teile verschenken, die unnützen Dinge wegwerfen. Wir verkaufen nichts. Wir fühlen uns beschenkt und schenken weiter. Es gibt momentan so unendlich viel Bedarf im Land bei denen, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Ja, Sie können aus Ihrer Entrümpelungstour noch ein paar Euro oder Franken herausholen. Das ist nicht verwerflich und vielleicht im Einzelfall richtig. Sie können sich aber auch überlegen, wer sich drüber freuen würde oder wer diese Dinge wirklich noch gebrauchen kann. Und sie dann fröhlich weiter geben.

Auch andere sind auf dieser Spur unterwegs: „Eines Tages fällt dir auf, dass du 99 Prozent nicht brauchst“, singt Silbermond auf ihrem aktuellen Album in „Leichtes Gepäck“. Das erinnert mich an ein Buch des US-Autors Richard Foster, das ich gelesen habe, als ich Anfang 20 war. In „Leben mit leichtem Gepäck“ geht es um einen Lebensstil, der auf Unnötiges leicht verzichten kann und sich auf Wesentliches konzentriert. Ich werde das Buch heute mit ganz anderen Augen betrachten. (Und seit letzter Woche ist meine Chance gewachsen, dieses Buch auch wieder zu finden.)

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