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„Ich darf meinen Platz einnehmen“

Christine Kernstock

Wer Neues ausprobiert, kommt oft an seine Grenzen. Solche Herausforderungen kosten Kraft, sind aber auch eine Chance, Gott völlig neu wahrzunehmen. Diese Erfahrung machte Christine Kernstock. Jesus, ich möchte etwas mit dir erleben. Zeig mir doch bitte, wenn du etwas Besonderes mit mir vorhast.“ Das war mein, zugegeben etwas abgedroschen klingendes, aber durchaus ernst gemeintes Standardgebet vor jedem Studiensemester. Nur einen Monat später hing ich an einem Drahtseil über einer Schlucht und schwor mir, so etwas Leichtsinniges nie, nie wieder zu beten. Aber der Reihe nach:

Grenzerfahrung statt Wanderurlaub

Meine Bibelschule bot einen viertägigen Aktivurlaub in Österreich an. Ich fahre nicht gerne mit Fremden weg, weil ich nicht gut im Smalltalk bin, aber Schweigen auch schlecht aushalten kann. Und ich schlafe nicht gerne in Mehrbettzimmern. Dennoch ließ mich das Gefühl nicht los, an dieser Fahrt teilnehmen zu sollen. Eine Woche vor dem Start, und damit in zeitlich sicherem Abstand hinter der Anmeldefrist, fragte ich dann doch beim zuständigen Dozenten nach. Er strahlte. Es wäre noch genau ein Platz frei, als hätte dieser auf mich gewartet. Ach. Wie sich herausstellte, ging es bei dem Urlaub gar nicht um sportliches Wandern, wie ich still angenommen hatte. Es ging darum, Gott in Grenzerfahrungen neu wahrzunehmen: Klettersteig, Aquädukt Jumping, Paragliding, eine Höhlentour und Canyoning (das ist sowas wie Wildwasserrafting, nur ohne Boot). Spätestens da war mir klar, dass Mehrbettzimmer und Smalltalk mein geringstes Problem werden würden.

Starr vor Angst

Unsere Schicksalsgemeinschaft bestand aus zwölf abenteuerlustigen Studierenden, einem Dozenten, einem Bergführer und mir. Allen war ziemlich schnell klar, dass das mit den Grenzerfahrungen ernst gemeint war. Irgendeiner heulte immer, meistens war ich es. Bereits am ersten Tag am Klettersteig betete ich, wie ich selten zuvor gebetet hatte. Darum, nicht abzustürzen, mich nicht zu blamieren und die Gruppe nicht aufzuhalten. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht irgendeine göttliche Offenbarung. Die Nähe Gottes in meiner Angst oder wenigstens ein wenig himmlischen Frieden. Doch als es vom Klettersteig an die Zip-Lines ging (das ist wie eine Tarzanbahn auf dem Spielplatz, nur hängt man an einem Seil im Klettergurt), verpasste ich bei der Landung den Felsen. Meine Beine waren zu kurz, ich kam nicht auf den Boden, fand keinen Halt und fuhr zurück über die Schlucht, wo ich schließlich hängen blieb. Ungefähr 30 Meter unter mir nichts als gähnende Leere. Ich war starr vor Angst und hilflos. Aber was am schlimmsten für mich war, war die scheinbar völlige Abwesenheit Gottes. Da war nichts. Kein Trost, kein Eingreifen. Ich hing über dem Abgrund und war völlig allein.

Nichts getan

Mir schoss durch den Kopf: „Wie immer. Wenn es schlimm wird, bist du nicht da. Was habe ich auch erwartet?“ Also griff ich nach dem Stahlseil über mir und zog mich selbst, Meter für Meter, zur nächsten Felswand, wo mir Kommilitonen von der Bahn halfen. Als ich ankam, war ich erschöpft. Enttäuscht. Müde. Ich betete an diesem Tag nicht mehr und auch nicht am nächsten. In der zweiten Nacht endlich brach es aus mir heraus und ich warf Gott meinen ganzen Schmerz an den Kopf. Ich hatte ihm vertraut, wie so oft. Und er hatte nichts getan. Nichts! Ich selbst war es gewesen und ich war es so leid. Die Frage, die Gott mir stellte, brachte mich (widerwillig) ins Nachdenken. „Was hättest du gebraucht, um dich sicher zu fühlen?“ Gute Frage. Wenn schon nicht göttliches Eingreifen, dann hätte ich mir wenigstens einen Menschen an meiner Seite gewünscht. Jemanden, der mich in meiner Angst nicht allein lässt. Mein nächster Gedanke war: „Du bist doch nicht allein. In der Gruppe sind viele wunderbare Menschen. Bitte doch das nächste Mal einfach jemanden um Hilfe, wenn du Angst hast.“ Ja, das klang einleuchtend. Aber es war das Letzte, was ich wollte. Ich möchte niemandem zur Last fallen. Und es ist bestimmt eine Last, sich am Berg nicht nur um sich selbst, sondern auch noch um einen anderen Menschen kümmern zu müssen.

Ein Ringen

Die nächsten beiden Tage waren ebenfalls vollgepackt mit Grenzerfahrungen, jedoch war keine so schlimm wie der Klettersteig. Zum Abschluss gab’s dann doch noch eine Wanderung, da das Aquädukt eingerüstet war und wir nicht herunterspringen durften. (Danke Jesus, geht doch.) Was sehr entspannt anfing, wurde einen Kilometer vor dem Gipfel zu meinem zweiten Albtraum. Nebel, schlüpfrige Steine, wieder Klettern, nur diesmal ohne Sicherung. Hoch kam ich noch, aber beim Abstieg setzte die Höhenangst wieder voll ein. Es war ein Ringen mit mir. Doch schließlich ging ich auf zwei Kommilitonen zu und bat sie, mir zu helfen. Was bedeutete: zurückzubleiben mit mir. Nicht ihr eigenes Tempo gehen zu können. Sie blieben. Allein ihre Anwesenheit half mir, mich weiter zu trauen. Sie zeigten mir ein paar Techniken und setzten mir sogar die Füße, wenn ich gar nicht weiterkam. Ich war unendlich dankbar und konnte, trotz Stress, das erste Mal seit Tagen wieder richtig herzlich lachen. Außerdem hießen beide Andreas, was sich als sehr praktisch herausstellte, weil ich nur einen Namen brüllen musste und gleich vier helfende Hände hatte. Ich habe viel über mich erfahren in diesen Tagen. Vor allem aber, dass ich nicht alles allein schaffen muss. Ich darf meinen Platz einnehmen, darf Hilfe anfragen und darf es riskieren, anderen zur Last zu fallen. Gott hat uns nicht umsonst in Gemeinschaft gestellt. Ich darf die Gaben und Kompetenzen anderer mitnutzen. Und ich durfte außerdem erfahren: Weder Schweigen noch Mehrbettzimmer bringen mich um.

 

Dieser Artikel erschien in Magazin JOYCE. Jetzt kostenlos testen: www.joyce-magazin.net

Wenn Gott mir die eigenen Grenzen zeigt

Veronika Smoor

Sich Ziele zu setzen, hilft bei der Fokussierung. Doch was, wenn die gesteckten Ansprüche zu hoch sind? Die Bloggerin Veronika Smoor hatte sich zu viel vorgenommen.

Nachweihnachtszeit 2006. Ich sage den Feiertagspfunden den Kampf an, ziehe meine alten Joggingtreter an und laufe eine Runde durch den stillen Wald. Mein Kopfkino dreht seine eigenen Runden, während ich Meter um Meter zurücklege: Ich sehe mich in den Hochhausschluchten New Yorks joggen, mit tausenden anderen Läufern. Der New York Marathon! Genau das will ich sein: eine erfolgreiche Läuferin, Teilnehmerin an der Mutter aller Marathons. Ich kann alles sein, wenn ich nur genug Willenskraft und Selbstdisziplin aufbringe. 2007 – hier kommt mein besseres, trainiertes, schlankes, cooles Ich!

Mehr Lähmung als Motivation

Kaum bin ich wieder zu Hause, stürme ich ins Wohnzimmer und verkünde der um den Plätzchenteller versammelten Familie, dass ich den New York Marathon laufen werde. Sie trauen mir viel zu. Und doch lachen sie mich ein bisschen aus. Sollen sie ruhig. Sie werden schon sehen.

Am nächsten Tag fahre ich in die Stadt. Mein neues Ich benötigt neue Laufschuhe. Ein paar Mal gehe ich dann sogar joggen. Anfangs mit großer Motivation. Dann mit jedem Mal ein bisschen halbherziger. Ich kaue auf dem Bild, das ich von mir selbst geschaffen habe, entschlossen herum. Aber mit der Zeit lähmt es mich mehr, als dass es mich beflügelt. Das Jahr 2007 verstreicht. Ich bin zwar auf Reisen, aber New York ist nicht dabei. Gut, dann wird eben 2008 mein großes Jahr. Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, um mich in Topform zu bringen. Dann werde ich schwanger, und statt Lauftraining steht Geburtsvorbereitung auf dem Plan.

Unnötig viel Energie

Hand aufs Herz. Ich bin keine Marathon-Läuferin. Das habe ich spätestens bei einem Fünf-Kilometer-Lauf vor zwei Jahren gemerkt. Ich wurde bereits auf den ersten 500 Metern von einer Seniorin mit Walkingstöcken überrundet. Das war für mich mehr der Walk of Shame als ein Triumphzug.

„Gott hat mein Wesen mit Grenzen ausgestattet, die mich nicht einengen, sondern befreien.“

Ich hatte ein Bild von meinem Selbst gemalt, das mit der Realität nichts zu tun hat. Unnötig viel Energie hat es gefressen, mich in eine falsche Richtung gelenkt, an mir selbst verzweifeln lassen. Als Kind der Selbstverwirklichungsgeneration war mir meine eigene Identität zu wenig, ich wollte mich neu erschaffen. Aber oft sind unsere Wunschbilder nichts anderes als eine Flucht: Ich wäre gerne anders, als ich tatsächlich bin. Hinter meinem Wunsch, Marathon zu laufen, versteckte sich die Sehnsucht nach einem anderen Körper. Nach Gesehenwerden. Nach Außergewöhnlichkeit.

Selbstgeschaffene Sackgasse

Bis vor kurzem war ich überzeugt, ich sei eine extrovertierte Frau, die alles auf die Reihe bekommt. Entsprechend war mein Verhalten: immer laut, immer der Mittelpunkt, immer eine Meinung, immer rennen, erledigen, kontrollieren. Die Tatsache, dass ich mich die ganze Zeit über ausgebrannt, gereizt und müde fühlte, schob ich zur Seite. Bis es nicht mehr ging und ich mich einer Therapeutin anvertraute. Die half mir, mein verzerrtes Selbstbild zurechtzurücken: „Sie sind halt eher auf der introvertierten, sensiblen Seite angesiedelt.“

Diese Therapeutin hat mich an die Hand genommen, mit sanfter Gewalt in eine andere Richtung gedreht und aus meiner selbst geschaffenen Sackgasse herausgeführt. Mir wurde weit und frei ums Herz, weil ich endlich die Wahrheit über mich erkannte. Mir wurde klar, dass ich meine Seele jahrelang regelrecht vergewaltigt hatte, nur um meinem Selbstbild zu entsprechen. Ich konnte loslassen. Endlich. Um das zu sein, was ich tatsächlich bin. Manchmal extrovertiert (ja, ich kann eine Party durchaus rocken!). Aber eben auch ganz oft auf der stilleren Seite des Lebens. Auch hinter diesem falschen Selbstbild versteckte sich eine Sehnsucht: relevant zu sein. Und eine Angst: Kontrollverlust.

Befreiende Grenzen

Falsche Selbstbilder können krank machen. Uns an dem Leben, das Gott uns geschenkt hat, vorbeileben lassen. Ein Freund von mir – im Herzen eine Künstlerseele – hatte jahrelang das Bild von sich als Geschäftsmann. Er hatte sich in ein Bild gepresst, das ihm nicht entsprach. Nach vielen Jahren in der Geschäftswelt ist er ausgebrannt, weil er ignoriert hat, was er tatsächlich ist: eine sensible Seele mit der Sehnsucht nach Schönheit, nicht nach geschäftlichen Erfolgen.

Meine Therapeutin und der Fünf-Kilometer-Lauf haben mir meine Grenzen aufgezeigt. Und mich damit ein Stück weit in meine Identität geführt. Gott hat mein Wesen mit Grenzen ausgestattet, die mich nicht einengen, sondern befreien. Die mir Form und Halt geben. Ich muss nicht das Leben jeder Party sein. Ich muss nicht der multitaskende Powermensch sein. Ich muss nicht die sehnigstraffe Marathonläuferin sein.

Heilende Massage

Um unsere eigene Identität herauszuschälen, müssen wir immer wieder Inventur betreiben. Uns die Frage stellen: Welche falschen Sehnsüchte treiben mich? Was bin ich? Und was bin ich nicht? Vielleicht spüren wir, dass Gott schon lange Zeit seinen Daumen auf einer Stelle hat, die uns eigentlich wehtut. Wir winden uns unter seinem sanften Druck, wollen ausweichen und festhalten. Weil wir eben gern Erfolg, Anerkennung, Selbstverwirklichung, Kontrolle haben. Sein Druck ist eine heilende Massage, die uns vom Schmerz befreien will. Ich erlebe immer wieder: Wenn ich ihm nachgebe, falsche Bilder loslasse, dann erfahre ich niemals Verlust, sondern immer Befreiung. Dann erst kann ich Frieden mit meinem Ich, mit meinem Schöpfer finden. Dann fühle ich mich endlich nicht mehr wie ein zerquetschtes Puzzleteil, das man gewaltsam in ein fremdes Puzzle zwängt.

Nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, ziehe ich meine alten, ausgetretenen Laufschuhe an. Ich will eine Runde durch den Wald laufen. Einfach aus Freude daran, dass ich es kann. Und nicht, weil ich einen Marathon laufen muss.

Dieser Artikel ist im Magazin Family bzw. Family NEXT erschienen. Jetzt kostenlos testen:

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Die Autorin Veronika Smoor textet in ihrem Blog unter www.veronikasmoor.com.