Beiträge

Begegnung auf der Brücke

Susanne Tobies

Sind ein paar Brötchen genug? Unruhige Gedanken über Hilfe und Hilflosigkeit.

Auf dem Weg zu einer Besorgung in einem von mir wenig besuchten Stadtteil sehe ich etwa hundert Meter vor mir rechts und links der Straße Brückengeländer, die mit Müll, Plastikplanen, Decken und allerlei Gerümpel belegt sind. Als mein Auto auf gleicher Höhe ist, nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr: Ein offensichtlich Obdachloser kauert zwischen dem Unrat und hebt einen Arm. Ich weiß nicht – grüßt er mich Vorbeifahrende oder ist es eine willkürliche Bewegung? Auf jeden Fall ist meine Aufmerksamkeit geweckt. Ein plötzlicher Gedanke durchzuckt mich: „Du solltest dem Wohnungslosen Beachtung schenken! Ihm begegnen.“

Was war das für ein Impuls? Kam er von Gott? Oder war das einfach eine unausweichliche Idee, weil ich christlich sozialisiert bin? Inzwischen bin ich schon viele Meter weiter gefahren. Aber es lässt mir keine Ruhe. Ich erledige meine Besorgung, halte auf dem Rückweg bei einer Bäckerei und kaufe ein paar Käsebrötchen. Mein Gedanke: Ich könnte sie dem Mann einfach vorbeibringen. Die Brücke, auf der er hockt, ist weit von Läden, Wohnhäusern oder Stadtleben entfernt. Er wird sich bestimmt über etwas zu Essen freuen, so meine Überlegung. Gleichzeitig denke ich: Was für ein verrückter Gedanke – es gibt da gar keine Parkbucht, wo ich gut halten könnte.

Ich bin unentschlossen. Ich könnte einfach vorbeifahren und die Brötchen für meinen Mann und mich zum Abendessen nehmen. In mir kämpft es. Und wenn es doch Gottes Idee ist? Ich will doch auf ihn hören …

 

Aufbauphase …

Je näher ich der Brücke komme, desto unruhiger werde ich. Ich bete kurz: „Herr, wenn du wirklich willst, dass ich zu dem Obdachlosen gehe, dann mach, dass ich das Auto gut abstellen kann.“ Und so geschieht es. Hinter mir kein anderes Auto, ich kann einige Meter hinter dem Brückengeländer vorsichtig auf den unbefestigten Seitenstreifen fahren und sicher parken, dann überquere ich die Straße.

„Moin“, begrüße ich den Mann mit unserem typisch norddeutschen Gruß. „Hätten Sie gern ein paar Brötchen?“ Der Obdachlose schaut mich aus wässerigen Augen an. Er scheint ordentlich „getankt“ zu haben. Seine Kleidung ist schmutzig, er sitzt in einem Berg von Müll, ich bin betroffen. „Ja, danke!“, meint er nur und nimmt die Tüte. „Ist Ihnen nicht kalt?“, frage ich. „Nein, mir ist warm, ich bin ja hier in der Aufbauphase!“

Ich möchte laut auflachen – „Aufbauphase“? Was für ein vornehmes Wort für dieses Chaos-Lager! Gleichzeitig schießen mir die Tränen in die Augen. „Er versucht nur, seine Würde vor mir zu wahren“, denke ich. Der Mann zeigt mir sein Zelt, das er etwas unterhalb der Böschung auf einem Feld aufgeschlagen hat. Ich wechsele noch ein paar Worte mit ihm, verabschiede mich und wünsche ihm einen schönen Tag. „Was für ein Hohn!“, denke ich gleichzeitig. „Wie kann das ein schöner Tag für ihn werden – so im Müll und in der Kälte sitzend? Was nützt ihm da mein frommer Wunsch?“

 

Was war das jetzt?

Kaum sitze ich wieder im Auto, heule ich los wie ein Schlosshund. Es schüttelt mich regelrecht.

Zu Hause angekommen, frage ich mich: Was war das jetzt? Warum habe ich so emotional reagiert? Habe ich wirklich echtes Erbarmen mit diesem Mann? Warum habe ich dann aber nicht mehr für ihn getan? Oder sind die Tränen meinem Gemüt geschuldet, das auch gerne mal bei rührenden Filmszenen weint? Ich trau mich kaum, das so zu denken: Fand ich einfach nur das eigene Bild einer gutsituierten Frau, die einem Obdachlosen freundlich begegnet, so ergreifend, dass mir die Tränen kamen? Wie in einem herzbewegenden Film? Hoffentlich nicht. Scham überflutet mich. Tatsächlich kann ich meine Emotionen nicht wirklich einordnen.

Warum fühlt sich meine Betroffenheit in einem Film genauso an wie jetzt die Betroffenheit über die Situation eines realen Menschen? Ist sie dann echt? Kann man dieser Betroffenheit trauen? Ich habe keine Garantie für meine lauteren Motive.

Viele Fragen bewegen mich. Hätte ich den Mann nicht ins Auto laden müssen, ihm eine Dusche und ein Bett anbieten sollen? Hätte ich mich nicht darüber hinaus darum kümmern müssen, dass er konkrete Hilfe von Behörden oder Einrichtungen bekommt? Hätte ich nicht viel mehr tun müssen als ihm ein paar läppische Brötchen anzubieten?

 

Getröstet …

Am Abend schlage ich das Losungsbuch auf – ich war am Morgen nicht dazu gekommen, die Bibelworte für den Tag zu lesen. Was da steht, haut mich um: „Brich dem Hungrigen dein Brot!“ (Jes 58,7) Und: „Gutes zu tun und mit anderen zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.“ (Hebr 13,16)

Wieder laufen Tränen. Für den Moment fühle ich mich getröstet und von Gott in meinem Gefühlswirrwarr gesehen. Nein, finanziell war es kein Opfer, aber ich hatte als eher introvertierter Mensch meine Komfortzone verlassen – das war eine Gabe anderer Art. Und da kann ich sicher sein: Gott erkennt mein Herz und das hat ihm Freude bereitet, mit diesem Vers sagt er mir das zu. Unglaublich, wie Gott auf mich eingeht!

Später erfahre ich von meinen Freunden, dass genau dieser Obdachlose Stadtgespräch ist und es mit seinem Lager sogar bis in die örtliche Tageszeitung geschafft hat, wo sich zahlreiche Leserbriefe mit ihm beschäftigt hatten. Die Meinungen sind kontrovers und völlig geteilt. Die einen feiern ihn als Freigeist (er sieht sich wohl selbst als Lebens-Künstler), die anderen schimpfen über die vermüllten Plätze auf der Brücke und möchten dem am liebsten ein Ende setzen. Der Mann will sich auch nicht helfen lassen, es haben wohl schon viele ihre Hilfe angeboten, er könnte jederzeit ins städtische Übernachtungsheim ziehen – aber er bevorzugt das Leben im Freien.

 

… aber die Fragen bleiben

Also alles okay? Bin ich entlastet, so ist es halt mit diesem Mann – jeder wählt sein Schicksal selbst? Nein, die Fragen bleiben. Er ist ja nicht der einzige Obdachlose in meiner Stadt. Und nicht der einzige Bedürftige. Es gibt alleinerziehende Frauen, finanziell Notleidende, psychisch Kranke, alte Menschen, die einsam sind – Bedürftigkeit ist selten so offensichtlich wie bei diesem Mann und seinem Lager an der Brücke.

Sie alle stellen eine Herausforderung dar, eine Anfrage – nicht nur an mich, genauso an unsere Gemeinden und Kirchen. „Gutes zu tun vergesst nicht …“ Was tun wir, was tue ich? Für wen setzen wir uns ein? Uns geht es so gut! Was geben wir ab, nicht nur von unserem Reichtum, sondern auch von unserer Zeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung, von unserer Arbeitskraft, von unserer Liebe?

Unsere Gemeinde hat ein Geflüchteten-Café aufgebaut, bei dem ich jetzt im vierten Jahr mithelfe – Hilfe bei der Wohnungssuche, beim Deutschlernen, mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, mit „einfach für sie da sein“. Aber selbst hier scheint der Einsatz nie genug zu sein. Ich weiß, die Menschen brauchen mehr als einmal in der Woche einen Ort, wo sie angenommen sind und Gespräche haben können samt einer Tasse Kaffee oder Tee. Aber ich empfinde mich so oft als zerrissen zwischen dem, was not-wendig scheint, und dem, was ich zu geben bereit bin.

Und was kann ein Einzelner tun? Ist das, was ich tue, schon genug? Kommt es mehr auf mein Herz an – oder auf den Einsatz – oder gar auf ein gutes Ergebnis? Fragen bleiben. Ein schlechtes Gewissen ist oft mein Begleiter. Ich würde so gern Frieden finden, mich in dem Gefühl zurücklehnen, meinen Teil beigetragen zu haben. Aber vielleicht ist die bleibende Unruhe auch wichtig. Vielleicht ist es eine „heilige Unruhe“, damit ich offen bleibe für die Not anderer Menschen und ein weiches Herz bekomme und behalte für die, die Jesus so sehr liebt: die Armen, die Hungrigen, die Kranken, die Gefangenen, die Witwen und Waisen, die Benachteiligten und Außenseiter dieser Welt.

Ein berührbares Herz, ein paar Käsebrötchen, ein kleiner Anfall von Mut – und viele Fragen, die mich weiter umtreiben …

 

Dieser Artikel erschien in AUFATMEN. Jetzt kostenlos testen: www.aufatmen.de

Nichts ist selbstverständlich!

Von Martin Gundlach

Eine Einladung zum Mitgestalten.

Die Briten sind raus aus der EU. In Frankreich sind die beiden großen Volksparteien bei der Wahl zum Präsidenten nur Zaungäste. In Europa, in der Türkei und in den USA sind von Politikern Sätze zu hören, die ich längst in die Geschichts-Kiste gelegt hatte. Ich reibe mir die Augen: Kann das wirklich alles sein?

Nichts ist mehr selbstverständlich. Das ist vor allem eine aufrüttelnde Nachricht für die, die sich nicht vorstellen können, dass sich das Leben wirklich grundlegend ändern könnte. Die sich öffentlich nicht engagieren, weil sie an das unaufhaltsame „Immer-weiter-so“ des Gewohnten glauben. An diejenigen, die vielleicht gelegentlich zur Wahlurne gehen – wenn es nicht gerade in Strömen regnet oder Oma Geburtstag hat. Die nichts anderes kennen, als ein Leben in Freiheit und in Demokratie zu leben. Und die niemals darüber nachgedacht haben, dass all die (mühsam erkämpften) Werte wie Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit einmal gefährdet sein könnten. Was also tun, um das Gute zu bewahren?

Zur Wahl zu gehen, um die Demokratie mitzugestalten, ist das Minimum. Ich habe das Gefühl: Wir alle, die wir (in Westdeutschland, Österreich, der Schweiz …) nie in einem anderen System gelebt haben, haben manchmal vergessen, was für ein Vorrecht es ist, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben. Nichtwählen ist keine Option.

Darüber hinaus finde ich wichtig, in Gesprächen Position zu zeigen für die Einstellungen und Werte, die mir wichtig sind. Ich staune, wie unwidersprochen fremdenfeindliche Gesprächsbeiträge geduldet werden. Auch wie abfällig zum Beispiel von manchen Christen über „die Moslems“ geredet wird, als wären sie keine Menschen, sondern nur ein Problem. Das darf nicht sein.

Zum dritten: Auch wenn wir als Einzelne die Welt nicht komplett ändern können, finde ich es wichtig, mit zeichenhaften Taten deutlich zu machen, in welcher Welt wir leben wollen. Einer Flüchtlingsfamilie zu helfen. Eine Hilfsorganisation zu unterstützen, die sich für die Werte einsetzt, die mir wichtig sind. Einen Politiker zu kennen und einmal nach seinen Anliegen zu fragen, ihm zu schreiben, für ihn (oder sie!) zu beten. Und über all das mit der eigenen Familie, den eigenen Kindern im Gespräch zu bleiben. Darin liegt eine Chance, gemeinsam dazuzulernen und Neues zu entdecken.

Damit das, was uns heute selbstverständlich scheint, auch eine Zukunft hat!

Dieser Kommentar erschien in FamilyNEXT.  Jetzt kostenlos testen: www.familynext.net