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Wir alle sind die Kirche

Anna Maria Gerlach

Warum es wichtig ist, über unser kirchliches Selbstverständnis nachzudenken, wenn wir Kirche als Ehrenamtliche gestalten wollen.

„Eine evangelische Kirche, die sich dem Gedanken des Priestertums aller Getauften verpflichtet fühlt, sollte Ehrenamtliche nicht (mehr) als ‚Laien‘ bezeichne. Auf diesen Begriff sollten wir ganz verzichten“, schreibt Steffen Bauer auf der Webseite des Ehrenamtsportals www.evangelisch-ehrenamt.de. Es war die These mit der größten Zustimmung auf den Seiten des EKD-Diskursprojekts zum Thema „Zukunft Ehrenamt“. Über 13 Monate lang konnten in den Jahren 2016 und 2017 online Thesen eingebracht, diskutiert und gewertet werden.

Das Priestertum aller Getauften

Immer wieder sprechen wir von dieser Unterscheidung von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen – sie scheint uns wichtig zu sein. Doch was schwingt eigentlich darin mit? Die Hauptamtlichen, das sind die Profis. Die haben Theologie studiert, die können das: Kirche. Auch mir als Gemeindepädagogin schwingt das manchmal entgegen: „Mach du das mal – du hast das doch studiert!“ Ja, hab ich. Trotzdem: Ehrenamtliche sind keine Laien. Sie sind Christen. Wie ich auch. Das sogenannte „Priestertum aller Getauften“ meint, dass alle Christen Priester sind. Alle sind fähig und berufen dazu, Ämter in einer Gemeinde zu übernehmen. Alle haben die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums (vgl. 1. Petrus 2,9).

Die Reformatoren haben das stark gemacht – in diesem Punkt unterscheiden wir uns also wesentlich von unseren katholischen Geschwistern. Doch damit die Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente geordnet ablaufen, haben wir Hauptamtliche eingesetzt. Sie sind mit den Grundaufgaben der Gesamtgemeinde beauftragt. Dabei dürfen wir uns klarmachen: Ein Pfarrer ist kein Vermittler zwischen Gott und der Gemeinde. Ganz im Gegenteil: Alle sind gleichrangig und wer für ein Amt beauftragt ist, soll von den übrigen Gemeindegliedern kritisch überprüft werden.

Das bedeutet: Hauptamtliche sind der Gemeinde untergeordnet. Sie dienen der Gemeinde. Nicht erst mit Hauptamtlichen ist Kirche Kirche. Auch eine Kirche ohne Pfarrer ist vollwertig Kirche!

Ehrenamt – die zweite Arbeit?!

Das Wort „Ehrenamt“ klingt schon so nach „Arbeit“. Es meint auch ganz simpel eine unentgeltliche Arbeit, oft eine anstrengende Arbeit: „Gibst du den kleinen Finger, wollen sie gleich die ganze Hand“, beschweren sich viele ehrenamtliche Engagierte – verständlicherweise. Schnell kann der Eindruck entstehen, ausgenutzt zu werden, für die Kirche zu arbeiten, aber nicht unbedingt Kirche zu sein.

Ein Blick in die Bibel zeigt, dass es in den ersten Gemeinden dieses Verständnis noch nicht gab. Es gab Ämter. Aber sie wurden nicht als solche bezeichnet. Wo deutsche Bibeln „Amt“ übersetzen, stehen im Griechischen oft Wörter, die zunächst einmal „Dienst“ bedeuten. Und dabei wird nicht unterschieden zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Ein Dienst in der Gemeinde ist nicht in erster Linie eine Arbeit, sondern eben ein Dienst. Ein Dienst an Menschen, zu dem alle Gläubigen berufen sind.

Mich fordert das heraus, neu über mein Verständnis von Ehrenamt nachzudenken: Ist meine Aufgabe etwas, das ich gerne tue, weil ich lieben und dienen möchte, oder übe ich mein Amt aus, weil ich denke, ich muss?

Oft denken wir, wir müssten unsere Ämter ausüben, damit die Kirche „funktioniert“. „Aber wir können doch die Kindergruppen nicht einfach ausfallen lassen!?“, solche oder ähnliche Sätze höre ich immer wieder in Gemeinden, wenn beispielsweise kein Gemeindepädagoge mehr da ist oder die Ehrenamtliche, die die Gruppe immer geleitet hat, plötzlich aufhört. Angebote und Gruppen dürfen auch sterben. Sie dürfen aufhören. Wenn WIR die Kirche sind, können auch WIR darüber entscheiden, wie wir unser Kirche-Sein gestalten möchten.

Eine Aufgabe für einen Menschen

Wenn eine Aufgabe unbesetzt ist, gehen wir meistens so vor: Wir suchen einen Menschen, der diese Aufgabe übernehmen kann. Das klappt nur so mittelgut. Denn dabei müssen viele Menschen erst überredet werden. Die Menschen passen sich oft der Aufgabe an. So ist es kein Wunder, dass die Aufgabe selbst sich als zusätzliche Arbeit anfühlt. Andersherum können Aufgaben beleben und beflügeln: Lasst uns nach Aufgaben für Menschen suchen, nicht nach Menschen für Aufgaben. Jedes Gemeindeglied kann sich fragen, was es für ihn oder sie persönlich bedeutet, Kirche zu sein: Was kann ich gut? Was ist mir wichtig? Wie möchte ich Evangelium verkündigen? Wovon habe ich schon immer geträumt? Und: Wofür habe ich gerade Zeit und Kraft?

Leider stellt Wolfram Dawin vom Zentrum Ökumene der EKHN und EKKW fest: „Die Erfahrungen und Kenntnisse, die Ehrenamtliche aus ihrem Beruf mitbringen, werden viel zu häufig übersehen oder finden keine Anerkennung.“ Gemeindeleiterinnen und Hauptamtliche tun gut daran, den Einzelnen bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen. Manche Aufgaben werden dann erst einmal unbesetzt bleiben. Dann stellt sich die Frage, ob die Aufgabe vielleicht gar nicht so wichtig ist, wie ursprünglich gedacht. Andere Gemeinschaftsformen werden neu entstehen, weil Gemeindeglieder den Raum bekommen, initiativ zu werden und Fähigkeiten aus ganz anderen Lebensbereichen auch in der Gemeinde einzusetzen.

Bei jedem Ehrenamt können wir uns also fragen: Braucht es das? Wollen wir das? Wenn diese Aufgabe für uns wichtig ist, wer führt sie gerne aus? Wenn der Pfarrer weggeht, bleiben Aufgaben liegen. Und das ist in Ordnung. Diejenigen, die da sind, sind die Kirche. Und diejenigen, die da sind, können ganz frei über die Ausgestaltung ihrer Gemeinschaft entscheiden. Nichts muss einfach so weitergehen, nur damit es weitergeht.

Kirche sein

Manchmal verhalten wir uns als Kirche wie eine Dienstleisterin: Wir sind institutionell organisiert und wir machen Angebote für Menschen. Wir laden zu Veranstaltungen ein, wir unterscheiden zwischen Mitarbeitenden und Teilnehmenden, wir bieten Programme an. Dass wir den Menschen dienen, gehört zu unserem kirchlichen Selbstverständnis mit dazu und das ist gut so. Doch die Grundlage fürs Dienen ist wichtig: „Ich denke, dass wir als Kirche nicht irgendein Anbieter von sozialen und kulturellen Dienstleistungen sind, sondern dass diese bei uns immer mit dem Evangelium verknüpft sein sollten: Was Ehrenamtliche leisten, sollte ein Verweis auf das Evangelium sein“, sagt Michael Herbst dazu. Als Kirche sind wir die Gemeinschaft der Heiligen, derjenigen, die zu Jesus gehören, der Leib Christi.

Nach Paulus entsteht Kirche durch die Verbundenheit mit Christus. Der Zugang dazu ist die Taufe und das Abendmahl drückt immer wieder neu aus, dass wir in dieser Gemeinschaft bleiben. Wir Glaubenden werden in diesen Leib Christi eingefügt. Er entsteht nicht erst, wenn sich einzelne Menschen treffen. Christus ist schon da. Der Leib Christi ist schon da. Jesus Christus selbst ermöglicht das Dasein der Kirche. Nicht unsere Strukturen, nicht die Hauptamtlichen.

In der Confessio Augustana und in der Barmer Erklärung wird das bekräftigt: Die Kirche ist dann Leib Christi, wenn das Evangelium in Wort und Sakrament (Taufe und Abendmahl) verkündigt wird. Mehr braucht es nicht. Wir brauchen kein Kirchengebäude, kein Gemeindehaus, keinen Pfarrer. Wir brauchen keine Kinderkirche, keine Gottesdienste anlässlich von Eheschließungen, keinen Seniorenkreis, kein Gebetsfrühstück. All das sind sinnvolle Dinge – sie ordnen unser Gemeindeleben oder sind ein Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft. Aber sie sind nicht Kern der Kirche.

Weniger Strukturen

Wir dürfen unterscheiden zwischen der Kirche als Institution und der unsichtbaren Kirche als geistliche Größe. Es ist die Kirche von Jesus Christus. Die Strukturen, Bürokratien und Hierarchien haben wir Menschen unserer Gemeinschaft gegeben, um uns zu ordnen. Doch in diesen Ämtern und Funktionen wirkt letztendlich Gott selbst. Der Heilige Geist ist sozusagen das kritische Prinzip, das die Amtswirklichkeit begrenzt und – wenn es sein muss – außer Kraft setzt.

Die Strukturen sind mit der Kirche gewachsen. Es ist logisch: Je mehr Menschen zu einer Gemeinschaft dazugehören, umso mehr braucht es Regeln und Ordnungen. Dann genügt ein Wohnhaus nicht mehr als Treffpunkt und die Ausübung der Dienste kann so unübersichtlich werden, dass es sehr klug ist, hauptberuflich jemanden für den Dienst in der Kirche anzustellen. Doch wenn wir der Tatsache ins Auge sehen, dass unsere Gemeinschaft nicht größer, sondern kleiner wird, müssen wir die Strukturen wieder zurückschrauben.

Das bedeutet, den kleinen Gemeinschaften mehr Selbstständigkeit zu geben und die bisher große Institution Kirche kleiner werden zu lassen. Anstatt Einzelgemeinden zu Region-Gemeinden zusammenzufassen, sollte die einzelne Gemeinschaft befähigt werden, auch ohne Hauptamtlichen eine eigenständige Gemeinde sein zu können.

Die Ordination

Dabei wird immer wieder angemerkt, dass für die Auslegung der biblischen Texte und die Verwaltung der Sakramente ein theologisches Studium notwendig sei, damit dies „ordnungsgemäß und rein“ geschehen kann (vgl. Confessio Augustana, Artikel 7). Doch wieso ist ausgerechnet ein universitäres Theologie-Studium der Maßstab dieser Ordnungsgemäßheit? Die Regelungen in den einzelnen Landeskirchen sind unterschiedlich, inwiefern auch zum Beispiel Gemeindepädagoginnen und Prädikanten ordiniert werden können oder ob sie nur (eine Zeit lang) „beauftragt“ sind. Hier zeigt sich eine gewisse Geringschätzung der entsprechenden (durchaus theologischen!) Ausbildung, die wiederum den Menschen im Pfarramt einen priesterähnlichen Status gibt.

„Immer weniger Menschen wollen kirchlich ‚versorgt‘ werden, sie wollen nicht nur mitgestalten oder mitmachen, sie wollen gestalten und machen. Deshalb werden sich die Rollen und die Aufgaben der Hauptamtlichen gravierend verändern (müssen)“, schreibt Diakon Ralph Fischer. Es braucht keine Pfarrer, die die Gemeinden „versorgen“ mit ihrem Predigtdienst und der Sakramentsverwaltung. Es braucht gut ausgebildete Hauptamtliche, die Ehrenamtliche befähigen, Kirche auch allein zu gestalten. Wer so angeleitet und begleitet wird, kann auch ordiniert, also mit dem Verkündigungsdienst beauftragt werden.

Wie kommen wir dahin?

„Die Ehrenamtlichen kommen in der strategischen Planung immer noch zu kurz. Ich bin der Meinung, dass wir in unserem Veränderungsprozess die Ehrenamtlichen noch mehr einbeziehen müssen. Wo werden sie mit hineingenommen? Natürlich geht es nicht darum, ihnen noch mehr Arbeit aufzubürden, sondern vor allem um die Perspektive. Bitte lassen Sie uns die Ehrenamtlichen viel mehr in den Blick nehmen!“, meint Prisca Steeb auf der Synode der Württembergischen Landeskirche. Ja, wir brauchen als Ehrenamtliche, als Ortsgemeinden das Zugeständnis, vollständig Kirche zu sein – auch ohne Pfarrer. Wir brauchen mehr Begleitung und Förderung von Ehrenamtlichen, die die Menschen und ihre Potenziale sehen – nicht nur die Aufgaben.

Dabei ist klar: Funktionierende Gemeinden nur mit Ehrenamtlichen werden wir nicht von heute auf morgen haben. Doch wir müssen und werden uns verändern. Diese Veränderung geschieht nicht nur durch Strukturreformen „von oben“, sie muss auch „unten“ in den Ortsgemeinden beginnen. Bei jedem Einzelnen: Bei der Pfarrerin und beim Diakon genauso wie bei der ehrenamtlichen Jugendleiterin und dem Kirchvorsteher. Denn wir alle sind die Kirche.

 

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Kaugummi der Liebe Gottes

von Rüdiger Jope

„Auf welchem See war Jesus mit seinen Jüngern unterwegs?“, fragte der Pfarrer. Mein Finger schnellte nach oben. Für die richtige Antwort heimste ich als 7-jähriger DDR-Bürger einen West-Kaugummi ein. Anschließend schnappte sich der Pastor die Gitarre und stimmte das Lied „Gottes Liebe ist wie die Sonne“ an. Noch heute, 38 Jahre später, habe ich diesen paradiesischen Kaugummi-Geschmack in Mund und Nase, wenn ich diese Zeilen singe oder höre.

Kirche ist dazu da, dass den Menschen die Liebe Gottes auf der Zunge zergeht und sie eine Heimat finden. Noch eine Kostprobe? Zuhause funkte es im Teenageralter gewaltig. Der Hocker an der Heizung in der Küche des Pastors wurde für mich zum Heimathafen. Dort saß ich in schwierigen Zeiten mit einem Meerschweinchen auf dem Schoß. Dort fand ich ein hörendes Herz, ein ermutigendes Wort, ein freundliches Lächeln, ein gelebtes, gastfreies Evangelium.

Helfend und dienend

Das ist ein wesentlicher Kern der Kirche – oder wie Dietrich Bonhoeffer es formulierte: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. … Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ Kirche, Christsein ist kein Selbstzweck. Darin ist Kirche gut. Meistens.

Noch stapeln sich in der Wohnung die Umzugskisten. Egal. Es ist Sonntag. Wir besuchen den Gottesdienst im neuen Ort. Eine volle Windel sorgt für Verspätung. Die Glocken sind bereits verklungen, als wir mit dem Wagen vor einer Treppe zum Stehen kommen. Wo geht’s bloß rein? Schweißgebadet öffnen wir eine schwere Tür. Unsicher suchen wir Vier uns einen Platz. Starr nach vorne gerichtete Augen würdigen uns keines Blickes. Als die Orgel einsetzt, merken wir: Uns fehlen noch die Liederbücher. Nur wo gibt es die? In die Liturgie hinein quasselt unser Einjähriger. Einen Kindergottesdienst scheint es nicht zu geben. Vor der Predigt gehe ich mit den Kindern raus. Nur wohin? Im Raum nebenan krabbelt der Kleine los. Nach wenigen gekrabbelten Metern sind die Finger schwarz, seine Hose sieht aus wie ein Lappen nach dem Freitagsputz. Die für die Große gefunden Stifte benötigen erst einen Spitzer. Nur wo ist dieser?

Einladend und fehlerfreundlich

Kirche ist an vielen Orten gut, einladend, den Menschen zugewandt, aber es gibt auch noch viel Luft nach oben. Dr. Heinzpeter Hempelmann schlägt in seinem Buch „ZEITGEIST 2“ (Francke) folgendes vor: „Lassen Sie uns Gemeinde bauen, die nicht ideal, nicht perfekt, sondern Gemeinden unterwegs, auf Zeit, als Notbehelf, im Wechsel, Station eben, für eine Nacht oder für ein Glas Sprudel und eine Tasse Kaffee, eine Wegstrecke. Fehlerfreundlich, unvollkommen und gerade darin Hinweiser auf die eine große Heimat, das eine große Ziel, zu dem wir unterwegs sind.“

In der Hoffnung, dass Menschen durch diese Art Kirche auf den Geschmack kommen und sich die göttliche Liebe auf der Zunge zergehen lassen, wie den Kaugummi.

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Mit Gott auf der Rennstrecke

von Rüdiger Jope

Was kommt dabei heraus, wenn ein visionäres Team 100 Jahre Motorsport, ein abgehalftertes Hotel, Flüchtlinge und ehemalige Straffällige zusammenbringt? Eine Kirchengemeinde!

Wolkenloser Himmel. Langgezogene Kurven. Schattenspendende Bäume. Verkleidete Leitplanken. Dröhnend zieht eine Maschine an meiner heruntergelassenen Seitenscheibe vorbei. Sie signalisiert meiner Nase und meinen Ohren: Du bist auf der richtigen Spur Richtung Glemseck. Bis in die 60er-Jahre hinein trugen auf der legendären Solitude-Rennstrecke in der Nähe von Stuttgart zwei- und vierrädrige Legenden des Motorsports ihre PS-starken Fights um Lorbeerkränze und glänzende Pokale aus. Vor dem Hotel Glemseck parke ich. Auf mich wartet Tobias Merckle, der Gründer, Taktgeber und Vorstand von „Seehaus e.V.“. Mit leuchtenden Augen führt er mich durch die in die Jahre gekommenen Räume, die eine vergilbte, rauchgeschwängerte, aber reiche Motorsportvergangenheit atmen. „Eigentlich träumte ich schon 13 Jahre davon, hier an diesem Ort Motorradfahrer, Oldtimerfahrer und Motorsportbegeisterte in ihrem Umfeld mit dem Glauben in Berührung zu bringen“, so der Visionär.

Traditionen pflegen, Neues entwickeln

Als er sich Anfang 2016 auf die Suche nach weiteren Räumen für den „Jugendstrafvollzug in freien Formen“ macht, wird ihm dieses abgelebte Kleinod angeboten. Merckle ist in seinem Element: „Als ich dann in diesen Räumen stand, wusste ich: Mitarbeiterwohnungen sind hier fehl am Platz. Die über 100 Jahre alte Geschichte gehört unter neuen Vorzeichen fortgeschrieben.“ Auf einem Laptop bekomme ich die Zukunft präsentiert: Ein hippes Motorsporthotel. Detailverliebte Innenausstattung mit Fotos, Originalfahrzeugen und Oldtimern. Zudem sollen im Glemseck Flüchtlinge in der Gastronomie ausgebildet werden, um ihnen so einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Motorsportbegeisterung mit Mehrwert zum Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Helfen und Glauben.

Gerade Letzteres ist Merckles Leidenschaft. Ehemaligen Straffälligen eine Gemeinde als Zuhause anzubieten. Alle wohlgemeinten Versuche scheiterten. Die meisten Jugendlichen fanden nach der Zeit im Seehaus keine Beheimatung in einer normalen Gemeinde. „Die Lebenswelten, die Erfahrung, die Gesprächsthemen, die Interessen sind einfach ganz andere“, bilanziert der Gründer etwas ernüchtert. Doch Merckle hat das Unternehmer-Gen. Wo ein Problem ist, sucht er nach einer Lösung. Mit einer kleinen Gruppe von Mitstreitern setzt er sich mit Verantwortungsträgern aus der evangelischen Landeskirche Württemberg zusammen. Sie fragen: „Könnte Glemseck nicht eine ‚personale Gemeinde‘ werden für ein Milieu, welches die klassische Kirchengemeinde nicht erreicht?“ Sie kann. Seit Anfang Mai 2016 ist die „Gemeinde am Glemseck“ Teil der Gesamtkirchengemeinde Leonberg und der evangelischen Landeskirche Württemberg.

Beziehung statt Programm

Glemseck will dort mit dem Glauben hin, wo die Leute sind. Die Motorradfahrer und Motorsportbegeisterten sind da ein zusätzliches Pfund. Merckle gibt eine Begebenheit aus einem Motorradgottesdienst zum Besten. Auf dem WC ist die Pfarrerin dabei, sich ihren Talar überzustreifen. Nebendran schlüpfte eine Motorradfahrerin in ein Hasenkostüm. Der Pastorin rutschte ein schmunzelndes „sieht aber komisch aus“ raus. Ihr Gegenüber konterte lachend: „Ebenso!“

Knapp achtzig „komische“ Leute treffen sich inzwischen in dieser ökumenischen Mitmachgemeinde. Sie wird zum Zuhause für Suchende, Zweifler, Interessierte, Neugierige und Flüchtende. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Thema Gemeinschaft. Lebensberichtsabende und gemeinsames Essen sind ein zentrales Element. „Menschen kommen vor allem wegen der Beziehungen, die Gottesdienste nehmen sie so mit“, ergänzt Merckle. Auf dem Rückweg zum Auto bückt sich der Visionär nach dem achtlos weggeworfenen Müll. Ich erlebe: Hier ist sich einer nicht zu schade, kleine und große Müllberge des Lebens beiseite zu räumen, damit Menschen sich mit Gott auf die Rennstrecke ihres Lebens begeben.

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