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Mit Gott auf der Rennstrecke

von Rüdiger Jope

Was kommt dabei heraus, wenn ein visionäres Team 100 Jahre Motorsport, ein abgehalftertes Hotel, Flüchtlinge und ehemalige Straffällige zusammenbringt? Eine Kirchengemeinde!

Wolkenloser Himmel. Langgezogene Kurven. Schattenspendende Bäume. Verkleidete Leitplanken. Dröhnend zieht eine Maschine an meiner heruntergelassenen Seitenscheibe vorbei. Sie signalisiert meiner Nase und meinen Ohren: Du bist auf der richtigen Spur Richtung Glemseck. Bis in die 60er-Jahre hinein trugen auf der legendären Solitude-Rennstrecke in der Nähe von Stuttgart zwei- und vierrädrige Legenden des Motorsports ihre PS-starken Fights um Lorbeerkränze und glänzende Pokale aus. Vor dem Hotel Glemseck parke ich. Auf mich wartet Tobias Merckle, der Gründer, Taktgeber und Vorstand von „Seehaus e.V.“. Mit leuchtenden Augen führt er mich durch die in die Jahre gekommenen Räume, die eine vergilbte, rauchgeschwängerte, aber reiche Motorsportvergangenheit atmen. „Eigentlich träumte ich schon 13 Jahre davon, hier an diesem Ort Motorradfahrer, Oldtimerfahrer und Motorsportbegeisterte in ihrem Umfeld mit dem Glauben in Berührung zu bringen“, so der Visionär.

Traditionen pflegen, Neues entwickeln

Als er sich Anfang 2016 auf die Suche nach weiteren Räumen für den „Jugendstrafvollzug in freien Formen“ macht, wird ihm dieses abgelebte Kleinod angeboten. Merckle ist in seinem Element: „Als ich dann in diesen Räumen stand, wusste ich: Mitarbeiterwohnungen sind hier fehl am Platz. Die über 100 Jahre alte Geschichte gehört unter neuen Vorzeichen fortgeschrieben.“ Auf einem Laptop bekomme ich die Zukunft präsentiert: Ein hippes Motorsporthotel. Detailverliebte Innenausstattung mit Fotos, Originalfahrzeugen und Oldtimern. Zudem sollen im Glemseck Flüchtlinge in der Gastronomie ausgebildet werden, um ihnen so einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Motorsportbegeisterung mit Mehrwert zum Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Helfen und Glauben.

Gerade Letzteres ist Merckles Leidenschaft. Ehemaligen Straffälligen eine Gemeinde als Zuhause anzubieten. Alle wohlgemeinten Versuche scheiterten. Die meisten Jugendlichen fanden nach der Zeit im Seehaus keine Beheimatung in einer normalen Gemeinde. „Die Lebenswelten, die Erfahrung, die Gesprächsthemen, die Interessen sind einfach ganz andere“, bilanziert der Gründer etwas ernüchtert. Doch Merckle hat das Unternehmer-Gen. Wo ein Problem ist, sucht er nach einer Lösung. Mit einer kleinen Gruppe von Mitstreitern setzt er sich mit Verantwortungsträgern aus der evangelischen Landeskirche Württemberg zusammen. Sie fragen: „Könnte Glemseck nicht eine ‚personale Gemeinde‘ werden für ein Milieu, welches die klassische Kirchengemeinde nicht erreicht?“ Sie kann. Seit Anfang Mai 2016 ist die „Gemeinde am Glemseck“ Teil der Gesamtkirchengemeinde Leonberg und der evangelischen Landeskirche Württemberg.

Beziehung statt Programm

Glemseck will dort mit dem Glauben hin, wo die Leute sind. Die Motorradfahrer und Motorsportbegeisterten sind da ein zusätzliches Pfund. Merckle gibt eine Begebenheit aus einem Motorradgottesdienst zum Besten. Auf dem WC ist die Pfarrerin dabei, sich ihren Talar überzustreifen. Nebendran schlüpfte eine Motorradfahrerin in ein Hasenkostüm. Der Pastorin rutschte ein schmunzelndes „sieht aber komisch aus“ raus. Ihr Gegenüber konterte lachend: „Ebenso!“

Knapp achtzig „komische“ Leute treffen sich inzwischen in dieser ökumenischen Mitmachgemeinde. Sie wird zum Zuhause für Suchende, Zweifler, Interessierte, Neugierige und Flüchtende. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Thema Gemeinschaft. Lebensberichtsabende und gemeinsames Essen sind ein zentrales Element. „Menschen kommen vor allem wegen der Beziehungen, die Gottesdienste nehmen sie so mit“, ergänzt Merckle. Auf dem Rückweg zum Auto bückt sich der Visionär nach dem achtlos weggeworfenen Müll. Ich erlebe: Hier ist sich einer nicht zu schade, kleine und große Müllberge des Lebens beiseite zu räumen, damit Menschen sich mit Gott auf die Rennstrecke ihres Lebens begeben.

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Nichts ist selbstverständlich!

Von Martin Gundlach

Eine Einladung zum Mitgestalten.

Die Briten sind raus aus der EU. In Frankreich sind die beiden großen Volksparteien bei der Wahl zum Präsidenten nur Zaungäste. In Europa, in der Türkei und in den USA sind von Politikern Sätze zu hören, die ich längst in die Geschichts-Kiste gelegt hatte. Ich reibe mir die Augen: Kann das wirklich alles sein?

Nichts ist mehr selbstverständlich. Das ist vor allem eine aufrüttelnde Nachricht für die, die sich nicht vorstellen können, dass sich das Leben wirklich grundlegend ändern könnte. Die sich öffentlich nicht engagieren, weil sie an das unaufhaltsame „Immer-weiter-so“ des Gewohnten glauben. An diejenigen, die vielleicht gelegentlich zur Wahlurne gehen – wenn es nicht gerade in Strömen regnet oder Oma Geburtstag hat. Die nichts anderes kennen, als ein Leben in Freiheit und in Demokratie zu leben. Und die niemals darüber nachgedacht haben, dass all die (mühsam erkämpften) Werte wie Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit einmal gefährdet sein könnten. Was also tun, um das Gute zu bewahren?

Zur Wahl zu gehen, um die Demokratie mitzugestalten, ist das Minimum. Ich habe das Gefühl: Wir alle, die wir (in Westdeutschland, Österreich, der Schweiz …) nie in einem anderen System gelebt haben, haben manchmal vergessen, was für ein Vorrecht es ist, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben. Nichtwählen ist keine Option.

Darüber hinaus finde ich wichtig, in Gesprächen Position zu zeigen für die Einstellungen und Werte, die mir wichtig sind. Ich staune, wie unwidersprochen fremdenfeindliche Gesprächsbeiträge geduldet werden. Auch wie abfällig zum Beispiel von manchen Christen über „die Moslems“ geredet wird, als wären sie keine Menschen, sondern nur ein Problem. Das darf nicht sein.

Zum dritten: Auch wenn wir als Einzelne die Welt nicht komplett ändern können, finde ich es wichtig, mit zeichenhaften Taten deutlich zu machen, in welcher Welt wir leben wollen. Einer Flüchtlingsfamilie zu helfen. Eine Hilfsorganisation zu unterstützen, die sich für die Werte einsetzt, die mir wichtig sind. Einen Politiker zu kennen und einmal nach seinen Anliegen zu fragen, ihm zu schreiben, für ihn (oder sie!) zu beten. Und über all das mit der eigenen Familie, den eigenen Kindern im Gespräch zu bleiben. Darin liegt eine Chance, gemeinsam dazuzulernen und Neues zu entdecken.

Damit das, was uns heute selbstverständlich scheint, auch eine Zukunft hat!

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