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Der verlorene Sohn

Nathanael Ullmann

Als Manager war Thomas Middelhoff ganz oben – speiste mit US-Präsidenten und Milliardären. Dann wurde er wegen Untreue und Steuerhinterziehung noch im Gerichtssaal verhaftet. In seinem Buch „Schuldig“ beschreibt er seinen Absturz und wie er zum Glauben zurückgefunden hat. Die Redaktion hat sich mit ihm getroffen – und ihn als ehrlich bereuenden Menschen erlebt.

Wenn Sie in den Spiegel schauen, was sehen Sie heute?

Middelhoff: Einen glücklichen Menschen.

Glücklich inwiefern?

Glücklich im Sinne von: im Gleichgewicht, hat seine Lebensideale gefunden und sich von Irrwegen befreit.

Was haben Sie noch vor fünf Jahren gesehen?

Einen gehetzten Menschen.

Sie haben ein neues Buch herausgebracht. Wie tief kann man da in Sie reinschauen?

Ich glaube, dass es kaum eine Nuance gibt, die da nicht offen zutage tritt. Vor allen Dingen in selbstkritischer Hinsicht. Sie finden da einen Menschen, der schonungslos offen mit den Gründen seines Scheiterns umgeht.

Was sich durch das Buch zieht, ist die Formulierung vom „Ich bin ich“-Prinzip. Wie sieht das idealtypisch aus?

Ich habe mich als Student als einen christlichen konservativen Menschen gesehen, der glücklich ist, wenn er andere Menschen glücklich macht. Und dieses „Ich bin ich“-Prinzip ist pervertiert im Laufe der Zeit, auch als Ergebnis meiner Karriere, zu einem „Ich bin wichtig“-Prinzip: „Ich bin wichtig, ich, Thomas Middelhoff.“

Sie haben als Manager alles erreicht, dann sind Sie gescheitert. Hat das etwas mit Ihrer Männlichkeit gemacht oder mit Ihrem Begriff von Männlichkeit?

Ich sag mal so: Als ich mir mein Scheitern eingestehen konnte, und dass ich selber dran schuld bin, habe ich mich sehr männlich gefühlt – weil ich finde, dass dazu viel Kraft gehört.

Heißt auf den Punkt gebracht: Scheitern ist männlich?

Scheitern macht stark. Stark können Frauen und Männer sein.

Wovon leben Sie heute? Sie sagen ja, Sie haben alles verloren.

Ich habe alles, was ich an Vermögen hatte, verloren. Was ich behalten habe, sind meine Pensionsansprüche. Die sind gepfändet bis auf das Existenzminimum, was laut Gesetz jedem Bürger dieser Gesellschaft zur Verfügung steht. Das bekomme ich und davon lebe ich.

Das heißt? Wovon muss ein Thomas Middelhoff heute so in Zahlen leben?

Können Sie nachlesen. Ich habe die Zahlen bisher nicht gesagt. Die können Sie in jeder Pfändungstabelle nachlesen. Sonst haben Sie die Schlagzeile „Er lebt jetzt genau von dem Betrag“.

In Ihrem Buch gehen Sie immer wieder darauf ein, dass Sie früher narzisstisch waren und es heute nicht mehr sind. Geht das tatsächlich von jetzt auf gleich, solche Charaktereigenschaften abzulegen?

Ich glaube, dass Charakter sich weiterentwickelt, auch bei einem Mann, der älter ist als 60 Jahre. Ich glaube nicht, dass man als narzisstischer Mensch geboren wird. Sondern ich glaube, dass ich durch die Rolle, die ich übernommen habe, einen Anspruch damit verbunden habe. Und daraus ist dann Arroganz und Narzissmus entstanden. Ich glaube, in der Phase, in der ich jetzt lebe, spielt Narzissmus gar keine Rolle mehr. Meine Reputation habe ich verloren, daraus kann ich keinen Narzissmus mehr entwickeln.

Das heißt, bei Ihnen besteht keine Gefahr mehr, in die alten Muster zurückzufallen?

Klar besteht noch die Gefahr. Sie haben ja ein gewisses Rollenverhalten, was konditioniert ist. Wenn mich jemand frech am Lufthansa-Schalter anspricht, dann kann’s passieren, dass das alte Rollenverhalten bei mir wiederkommt. Aber das merk ich auch sofort! Nach ein oder zwei Sätzen spricht schon innerlich eine Stimme, die sagt: „Das bist du doch gar nicht mehr, Thomas!“

Ihre Arbeit für eine der Behindertenwerkstätten von Bethel während Ihrer Haftstrafe war für Sie ein einschneidendes Erlebnis, da fand ein Paradigmenwechsel statt.

Ja. In Bethel habe ich zu mir selber gefunden und auch zu der Erkenntnis, was falsch ist an mir. Dass ich meine, alles muss sich um mich drehen. Die Menschen dort sind von Geburt an oder durch einen Eingriff in ihrem Leben fundamental benachteiligt. Wenn man mal gesehen hat, wie sie trotzdem in Glück leben und auch noch menschliche Wärme geben können, dann relativiert das alles sehr stark.

Gibt es da vielleicht eine Beispielszene, die Sie beschreiben können?

Ja, die erste Beispielszene war schon am ersten Arbeitstag. Die dort tätigen Behinderten kamen ganz offen auf mich zu. Jeder hatte seine besondere Form der Benachteiligung, die aber gar keine Rolle spielte. Sie haben mich mit offenen Armen aufgenommen. Ich war kein Fremdkörper, ich war sofort integriert, und das hat mich sehr berührt.

Heute arbeiten Sie, soweit ich weiß, nicht mehr in Bethel, nicht wahr?

Nein.

Auch nicht mehr ehrenamtlich?

Auch nicht ehrenamtlich. Ich hatte ursprünglich vorgehabt, weiter in Bethel engagiert zu sein, aber dann habe ich meinen Wohnort nach Hamburg verlagert und bin zum Bücherschreiben gekommen.

Könnten Sie es sich denn noch mal vorstellen – vielleicht in Hamburg – in einer anderen Behindertenwerkstatt?

Klar!

Sind Sie sowas wie der moderne verlorene Sohn? Verloren und wiedergefunden?

(lacht) Das ist eine gute Frage! Ich glaube, ein Kollege von Ihnen hat mich mal gefragt: „Vom Saulus zum Paulus?“ Ja, in gewisser Weise kann man das so sehen. Jedenfalls, was die christlichen Wertgrundlagen meines Lebens anbetrifft. Ich war auch vorher Christ, ich habe sogar bei Geschäftsessen gebetet. Aber das war ein rein formaler Prozess, wie ihn ein Katholik eben beigebracht bekommt in seiner Jugend. Heute besteht das Beten bei mir aus einem tiefen Bedürfnis, mich mit Gott auszutauschen. Eigentlich gefällt mir der Begriff des verlorenen Sohns besser als Saulus/Paulus, weil Saulus ja nicht vorher der Sohn war, der schon mit Werten gesegnet oder erzogen war. Und das war bei mir eigentlich der Fall.

Wie schauen Sie heute auf mächtige Menschen?

Ich glaube, dass ich mit sehr viel größerer Distanz auf diese Personen schaue, als es vielleicht ein normaler Bürger tut. Und zwar, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie verführerisch Macht sein kann und der damit verbundene, vielleicht auch unwissentliche Machtmissbrauch. Ich glaube, ich habe in meiner beruflichen Laufbahn viele Menschen verletzt, ohne dass ich das wollte. Es war ja nicht so, dass ich wie Django durch die Landschaft gestapft bin und gesagt habe: „Heute muss ich 20 verletzen.“ Aber wahrscheinlich habe ich es getan. Ich würde mir einen Mechanismus wünschen, der mächtige Personen mit einem Korrektiv ausstattet. Das Korrektiv reflektiert, wann Macht missbraucht wird oder die Stufe der Arroganz und Selbstüberhöhung erreicht ist.

Wenn Sie jetzt eine Aufzugfahrt Zeit hätten: Wie würden Sie Ihren Glauben beschreiben?

Mein Glaube ist der festen Überzeugung, dass Gott existent ist, dass Jesus uns durch seinen Tod befreit hat und dass der Heilige Geist uns mit all dem ausstattet oder ausstatten kann, was uns zu wertvollen Menschen macht.

Inwiefern hat Ihnen das Gefängnis geholfen, diesen Glauben neu oder wieder stärker zu entdecken?

Im Gefängnis ist es sehr naheliegend, dass man nach irgendetwas greift, was einem helfen kann. Und bei mir war es ganz einfach so, dass ich danach gegriffen habe: „Was will Gott mir hier eigentlich beibringen? Ich bin doch hier nicht aus Zufall. Wie kann ich Ruhe finden in meinen Gedanken und wie kann ich meine Panik, meinen Schock irgendwie unter Kontrolle bringen?“ Da war der erste Schritt der Besuch der sonntäglichen Messe. Freitagabend bin ich im Gefängnis eingerückt worden und Sonntag konnte ich in die Kirche gehen. Das war für mich ein unglaublich wichtiger Schritt. Und am Montag habe ich, glaube ich, schon beantragt, dass ich die Bibel in die Zelle bekomme, weil ich ganz einfach ein Bedürfnis danach hatte. Ich habe dann angefangen, morgens um fünf/halb sechs in der Bibel zu lesen. Das hat mich mehr und mehr innerlich ruhig werden lassen trotz aller Herausforderungen, die da waren.

Gibt’s irgendeine Bibelstelle, die Ihnen noch bewusst ist aus dieser Zeit?

Für mich war die zentrale Stelle, als ich dann bei Hiob angekommen war und las: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen.“

Vielen lieben Dank!

 

Dieses Interview erschien in der MOVO. Jetzt kostenlos testen auf https://www.movo.net/

Den Nächsten im Blick

Nathanael Ullmann

Hans-Martin Wiedemann strotzt nur so vor Energie. Das ist vor allem verwunderlich, wenn man bedenkt, wie viele ehrenamtliche Projekte der 60-Jährige neben seinem Beruf noch meistert.

Hans-Martin Wiedemann ist ein ehrenamtlicher Tausendsassa. Er sitzt im Gemeinderat seiner Kirche, engagiert sich bei der Kolpingfamilie und hilft bei der Caritas. Aber auch außerhalb der kirchlichen Strukturen endet sein Engagement nicht. Im Flüchtlingsnetzwerk ist er ebenfalls voll mit dabei. „Ich kann das nicht haben, wenn Menschen auf der Straße leben oder keinen Zugang zu Bildung haben“, so der Bochumer. Früher habe er bis zu 16 Stunden täglich als Werkzeugvertriebler gearbeitet. „Dann habe ich mir gedacht: Das kann es nicht sein.“ Wiedemann fuhr seine Stundenzahl zurück und engagiert sich seitdem verstärkt ehrenamtlich. Das sei zwar nicht bezahlt, gebe ihm aber ganz viel zurück.

Kleiderkammer fehlte

Auf die Flüchtlingsarbeit ist er durch das Bibelteilen (gemeinsames Bibellesen) gekommen. Zusammen hatte das Team überlegt, wo ihre Hilfe am ehesten gebraucht wird. Schnell war klar: Im Bochumer Stadtteil Langendreer fehlte es an einer Kleiderkammer. „Wir haben dienstags Bibel geteilt und den Sonntag darauf die Kleiderkammer eingerichtet“, erinnert sich der Ehrenamtliche.

Mittlerweile sind die meisten Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht, die Kleiderkammer ist überflüssig geworden. Für Wiedemann endet die Arbeit damit nicht. Nach wie vor ist er im koordinativen Bereich der Flüchtlingsarbeit tätig. Der zweifache Vater ist in unterschiedlichen Vereinen im Stadtteil unterwegs. Für jeden Belang weiß er den richtigen Ansprechpartner. Aber auch den persönlichen Kontakt zu den Geflüchteten unterhält er noch: „Die sind mir ans Herz gewachsen.“

Vorbild Adolph Kolping

Motiviert wird Hans-Martin Wiedemann durch sein großes Vorbild: Adolph Kolping. „Für ihn hat Kirche eine wichtige Rolle gespielt. Aber vor allem sein soziales Engagement für die Menschen, die keine Fürsprecher haben, inspiriert mich“, erzählt er begeistert. Zusätzlich dazu stärkt seine Frau ihm den Rücken: „Wenn ich meine Frau nicht hätte, könnte ich viele Projekte, die mir wichtig sind, so nicht umsetzen.“

Und wenn dann doch mal die Motivation schwindet? „Dann gucke ich abends noch mal aufs Kreuz oder morgens beim Guten-Morgen-Gebet, dann geht das.“ Besonders, wenn Wiedemann die Früchte seiner Arbeit sieht, findet er neue Energie. Vor einiger Zeit hat sich der Ehrenamtliche dafür stark gemacht, eine Flüchtlingsfamilie über dem Gemeindehaus einziehen zu lassen. „Wenn ich dann die Kinder auf dem Kirchplatz sehe, denke ich jedes Mal, dass es sich dafür gelohnt hat.“

In die Flüchtlingsarbeit einsteigen könne übrigens jeder, davon ist der gläubige Katholik überzeugt. Voraussetzungen müsse man keine mitbringen. „Jeder Mensch hat Gaben, die Gott ihm geschenkt hat. Der eine kann vielleicht besser vorlesen, der andere Möbel schleppen.“

 

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