Wenn Gott mir die eigenen Grenzen zeigt
Veronika Smoor
Sich Ziele zu setzen, hilft bei der Fokussierung. Doch was, wenn die gesteckten Ansprüche zu hoch sind? Die Bloggerin Veronika Smoor hatte sich zu viel vorgenommen.
Nachweihnachtszeit 2006. Ich sage den Feiertagspfunden den Kampf an, ziehe meine alten Joggingtreter an und laufe eine Runde durch den stillen Wald. Mein Kopfkino dreht seine eigenen Runden, während ich Meter um Meter zurücklege: Ich sehe mich in den Hochhausschluchten New Yorks joggen, mit tausenden anderen Läufern. Der New York Marathon! Genau das will ich sein: eine erfolgreiche Läuferin, Teilnehmerin an der Mutter aller Marathons. Ich kann alles sein, wenn ich nur genug Willenskraft und Selbstdisziplin aufbringe. 2007 – hier kommt mein besseres, trainiertes, schlankes, cooles Ich!
Mehr Lähmung als Motivation
Kaum bin ich wieder zu Hause, stürme ich ins Wohnzimmer und verkünde der um den Plätzchenteller versammelten Familie, dass ich den New York Marathon laufen werde. Sie trauen mir viel zu. Und doch lachen sie mich ein bisschen aus. Sollen sie ruhig. Sie werden schon sehen.
Am nächsten Tag fahre ich in die Stadt. Mein neues Ich benötigt neue Laufschuhe. Ein paar Mal gehe ich dann sogar joggen. Anfangs mit großer Motivation. Dann mit jedem Mal ein bisschen halbherziger. Ich kaue auf dem Bild, das ich von mir selbst geschaffen habe, entschlossen herum. Aber mit der Zeit lähmt es mich mehr, als dass es mich beflügelt. Das Jahr 2007 verstreicht. Ich bin zwar auf Reisen, aber New York ist nicht dabei. Gut, dann wird eben 2008 mein großes Jahr. Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, um mich in Topform zu bringen. Dann werde ich schwanger, und statt Lauftraining steht Geburtsvorbereitung auf dem Plan.
Unnötig viel Energie
Hand aufs Herz. Ich bin keine Marathon-Läuferin. Das habe ich spätestens bei einem Fünf-Kilometer-Lauf vor zwei Jahren gemerkt. Ich wurde bereits auf den ersten 500 Metern von einer Seniorin mit Walkingstöcken überrundet. Das war für mich mehr der Walk of Shame als ein Triumphzug.
„Gott hat mein Wesen mit Grenzen ausgestattet, die mich nicht einengen, sondern befreien.“
Ich hatte ein Bild von meinem Selbst gemalt, das mit der Realität nichts zu tun hat. Unnötig viel Energie hat es gefressen, mich in eine falsche Richtung gelenkt, an mir selbst verzweifeln lassen. Als Kind der Selbstverwirklichungsgeneration war mir meine eigene Identität zu wenig, ich wollte mich neu erschaffen. Aber oft sind unsere Wunschbilder nichts anderes als eine Flucht: Ich wäre gerne anders, als ich tatsächlich bin. Hinter meinem Wunsch, Marathon zu laufen, versteckte sich die Sehnsucht nach einem anderen Körper. Nach Gesehenwerden. Nach Außergewöhnlichkeit.
Selbstgeschaffene Sackgasse
Bis vor kurzem war ich überzeugt, ich sei eine extrovertierte Frau, die alles auf die Reihe bekommt. Entsprechend war mein Verhalten: immer laut, immer der Mittelpunkt, immer eine Meinung, immer rennen, erledigen, kontrollieren. Die Tatsache, dass ich mich die ganze Zeit über ausgebrannt, gereizt und müde fühlte, schob ich zur Seite. Bis es nicht mehr ging und ich mich einer Therapeutin anvertraute. Die half mir, mein verzerrtes Selbstbild zurechtzurücken: „Sie sind halt eher auf der introvertierten, sensiblen Seite angesiedelt.“
Diese Therapeutin hat mich an die Hand genommen, mit sanfter Gewalt in eine andere Richtung gedreht und aus meiner selbst geschaffenen Sackgasse herausgeführt. Mir wurde weit und frei ums Herz, weil ich endlich die Wahrheit über mich erkannte. Mir wurde klar, dass ich meine Seele jahrelang regelrecht vergewaltigt hatte, nur um meinem Selbstbild zu entsprechen. Ich konnte loslassen. Endlich. Um das zu sein, was ich tatsächlich bin. Manchmal extrovertiert (ja, ich kann eine Party durchaus rocken!). Aber eben auch ganz oft auf der stilleren Seite des Lebens. Auch hinter diesem falschen Selbstbild versteckte sich eine Sehnsucht: relevant zu sein. Und eine Angst: Kontrollverlust.
Befreiende Grenzen
Falsche Selbstbilder können krank machen. Uns an dem Leben, das Gott uns geschenkt hat, vorbeileben lassen. Ein Freund von mir – im Herzen eine Künstlerseele – hatte jahrelang das Bild von sich als Geschäftsmann. Er hatte sich in ein Bild gepresst, das ihm nicht entsprach. Nach vielen Jahren in der Geschäftswelt ist er ausgebrannt, weil er ignoriert hat, was er tatsächlich ist: eine sensible Seele mit der Sehnsucht nach Schönheit, nicht nach geschäftlichen Erfolgen.
Meine Therapeutin und der Fünf-Kilometer-Lauf haben mir meine Grenzen aufgezeigt. Und mich damit ein Stück weit in meine Identität geführt. Gott hat mein Wesen mit Grenzen ausgestattet, die mich nicht einengen, sondern befreien. Die mir Form und Halt geben. Ich muss nicht das Leben jeder Party sein. Ich muss nicht der multitaskende Powermensch sein. Ich muss nicht die sehnigstraffe Marathonläuferin sein.
Heilende Massage
Um unsere eigene Identität herauszuschälen, müssen wir immer wieder Inventur betreiben. Uns die Frage stellen: Welche falschen Sehnsüchte treiben mich? Was bin ich? Und was bin ich nicht? Vielleicht spüren wir, dass Gott schon lange Zeit seinen Daumen auf einer Stelle hat, die uns eigentlich wehtut. Wir winden uns unter seinem sanften Druck, wollen ausweichen und festhalten. Weil wir eben gern Erfolg, Anerkennung, Selbstverwirklichung, Kontrolle haben. Sein Druck ist eine heilende Massage, die uns vom Schmerz befreien will. Ich erlebe immer wieder: Wenn ich ihm nachgebe, falsche Bilder loslasse, dann erfahre ich niemals Verlust, sondern immer Befreiung. Dann erst kann ich Frieden mit meinem Ich, mit meinem Schöpfer finden. Dann fühle ich mich endlich nicht mehr wie ein zerquetschtes Puzzleteil, das man gewaltsam in ein fremdes Puzzle zwängt.
Nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, ziehe ich meine alten, ausgetretenen Laufschuhe an. Ich will eine Runde durch den Wald laufen. Einfach aus Freude daran, dass ich es kann. Und nicht, weil ich einen Marathon laufen muss.
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Die Autorin Veronika Smoor textet in ihrem Blog unter www.veronikasmoor.com.