Beiträge

Haltepunkte

Jörg Podworny

Das Kopfkino springt sofort an. Es ist ein ungemein spannender, lebenswichtiger und inspirierender Begriff: Halt. Und er wirft sehr schnell die Frage auf: Wann brauche ich eigentlich Halt?

Ein Halt tut gut, wenn ich unsicher bin. Ich habe das gerade wieder im Urlaub erlebt. Wir waren in Dänemark – und außer dem fröhlichen Begrüßungs-„Hej!“ und Straßenschildern mit der Aufschrift „Knallert forbudt“ (etwa „Hier dürfen keine Motorräder – oder ähnliche Fahrzeuge – fahren“) haben wir nicht ganz viel verstanden und sagen können (glücklicherweise sprechen viele Dänen besser Deutsch als viele Deutsche Dänisch). Wenn ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll, gehe ich deutlich unsicherer mit anderen Menschen um. Ähnlich ist es, wenn ich (mit dem Auto) im Nebel unterwegs bin und nicht wirklich sehe, wo es langgeht. Ich brauche Halt, wenn ich rutsche oder zu fallen drohe – wenn es im schlimmsten Fall kein Halten mehr gibt. Nochmal das Beispiel Auto: Mehr als einmal habe ich versucht, auf spiegelglatt vereister Straße zu bremsen … es wurde erst besser, als ich – in umgekehrter Fahrtrichtung – am gegenüberliegenden Straßenrand zum Halten kam.

Überhaupt im Leben: Es wird zumindest komplizierter, wenn nicht überhaupt unmöglich, ein Leben zu führen, in dem es keine Sicherheiten (mehr) gibt, wenn ich nichts habe, woran ich mich (fest)halten kann, keine Orientierung, kein Halteseil; wenn ich nicht weiß, wo’s langgeht oder es kein Halten mehr gibt.

Das gilt ebenso für die Fragen und das Leben im Glauben: Wenn Glaube nichts hat, woran er sich halten kann, wenn Orientierungspunkte fehlen, sorgt das für eine enorme Verunsicherung. Wir wünschen uns, wir hoffen, beten und vertrauen darauf, dass unser, dass mein persönlicher Glaube sich als tragfähig erweist. Gerade dann, wenn es schwierig wird, wenn vieles schwankt und vertraute Planken (vielleicht ganz plötzlich) wegbrechen.

Aber – und das ist das Großartige: Der Glaube an Jesus Christus ist kein verzweifeltes Festhalten an theologischen Richtigkeiten, sondern eine Beziehungs-, eine Vertrauenssache. Es werden ziemlich sicher Schwierigkeiten und unsichere Zeiten oder Momente kommen in meinem Leben. Die meisten könnten dazu ihre Geschichten erzählen. Vielleicht sind diese Zeiten nur ein wenig, vielleicht aber auch richtig ernsthaft bedrohlich. Gut zu wissen, dass Jesus mir gerade dann Halt gibt. Auch wenn ich vieles nicht verstehe, wenn mir selbst die Kraft zum Halten fehlt. Die gute Nachricht darin: Ich muss mich – nicht nur in solch bedrängenden Lagen – nicht selber (fest)halten. Sondern ich werde gehalten. Immer. Daran glaube, darauf vertraue ich.

Ergänzend dazu bedarf es noch eines anderen Haltepunktes: Halt im Sinne von Anhalten, Innehalten. Die Stille und Gegenwart Gottes suchen – als ein Halt zum Auftanken, zu einer neuen Inspiration und Motivation. Im ganz normalen Alltag. Und auch an besonderen Haltepunkten.

Als Redaktion wünschen wir Ihnen für das persönliche wie für das Gemeinde-Leben eine gute Haltung!

 

Dieser Kommentar erschien in Christsein Heute. Jetzt kostenlos testen: www.christsein-heute.de

Sich vorwärts beten

Ulrich Wendel

MIT GEPÄCK ZUR BURG …

Ein gewundener Waldweg. Ich gehe bergauf und genieße die Natur. Wichtiger aber noch ist mir das Alleinsein und die Stille. Gestartet bin ich in einem geistlichen Einkehrhaus in Hessen, in dem ich für 24 Stunden mein Quartier aufgeschlagen habe. Der Rhythmus von Alleinsein, liturgischem Tageszeitengebet mit anderen, Spaziergängen und Gebet in der hauseigenen Kirche prägt diese Zeit. Für meinen Spaziergang habe ich zwei Ziele. Zum einen möchte ich die nahe gelegene Burg Greifenstein erreichen, die ich sonst meist nur von der Autobahn aus entfernt liegen sehe. Zum anderen will ich eine Sorge mit Gott durchsprechen. In meiner Gemeinde stehen Wahlen zur Leitung bevor. Ich weiß nicht, wie sie ausgehen werden, und habe verschiedene Szenarien durchgespielt. Eine bestimmte Personenkonstellation erscheint mir gar nicht unwahrscheinlich – aber ich kann mir momentan nicht vorstellen, wie wir konstruktiv zusammenarbeiten würden. Ich befürchte, dass wir unterschiedliche Prioritäten bei der nötigen Erneuerung der Gemeinde haben könnten. All das habe ich im Gepäck auf meinem Weg hinauf zur Burg. Was soll ich beten? Dass Gott den Ausgang der Wahl steuert? Dass manche Personen sich nicht zur Verfügung stellen? Ich bete besonders für einen bestimmten Menschen – und für mich selbst: wie ich ihn sehe und ob meine Sicht wirklich die richtige ist. Vor allem ist eine meiner Gebetsrichtungen: Wenn es denn so kommt, dass ich mit diesem Menschen zusammenarbeiten werde, dann soll es ein unbelasteter Anfang sein. Ich möchte meine Sorgen und Vorbehalte nicht in diese Zusammenarbeit hineintragen. Nach einer Kurve tauchen die beiden markanten Türme der Burg auf, deren Anblick ich schon gespannt erwartet habe. Ich freue mich daran, die Burg zu betreten und ein wenig zu erkunden. Dann folgt der Rückweg zu meinem Einkehrhaus. Und auf einmal spüre ich, dass ich „durch“ bin mit meiner Sorge: Sie liegt hinter mir, ich habe sie unterwegs verloren. Ich kann Gott zutrauen, dass er die Arbeit in meiner Gemeinde weiter fördert und voranbringt – egal in welcher Personenkonstellation. Ganz klar: Mein Gebet hat nicht den Menschen verändert, über den ich mir Sorgen gemacht habe, sondern es hat mich selbst verändert.

 

DER FUßBALLER UND DER BISCHOF

Im Sommer 2014 wurde ein Wort populär, das vorher kaum zum Alltagswortschatz gehörte: die Eistonne. Das Achtelfinalspiel der deutschen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien verlief ziemlich schwach. Letztendlich gewannen die Deutschen gegen Algerien zwar nach Verlängerung, aber es war eine Zitterpartie – und Algerien ist nicht gerade als Fußballnation bekannt. Unmittelbar nach dem Spiel wurde der Innenverteidiger Per Mertesacker vor laufender Kamera interviewt. Die Fragen gingen dem erschöpften und entnervten Spieler offenkundig gegen den Strich. „Was wollen Sie jetzt von mir, so kurz nach dem Spiel?“, blaffte er den Reporter schweißgebadet an. „Ich verstehe nicht, was Sie wollen. Wir haben es uns hundertzwanzig Minuten schwer gemacht und gekämpft bis zum Ende. Ich leg mich jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne und dann sehen wir weiter.“ Das Video dieser Interview-Sequenz erzielte seitdem Hunderttausende von Aufrufen im Internet. Die Eistonne schien wirklich dringend nötig zu sein: Nicht nur um den geschundenen Körper herunterzukühlen, sondern auch den flammenden Zorn über die Reporterfragen. Zu jeder anderen Gelegenheit wäre der Gedanke an ein Bad in der Eistonne abschreckend – und der Versuch, jemanden hineinzusetzen, würde laut kreischend enden. Aber es gibt Momente, da ist die Eistonne der einzig richtige Ort. Gehen wir von der WM 2014 ein paar Jahrhunderte zurück. Den französischen Bischof Franz von Sales, 1665 heiliggesprochen, stellt man sich kaum so aufbrausend vor wie einen schwitzenden Fußballspieler vor dem Mikrofon eines Sportreporters. Dieser Bischof war für viele Gläubige ein geistlicher Begleiter. In seinem Buch „Philothea“ hat er seine Weisungen gesammelt. Über das Gebet sagt er da: „Das Gebet ist die segensreiche Quelle, deren belebende Wasser die Pflänzchen unserer guten Wünsche zum Grünen und Blühen bringen, jeden Makel von unserer Seele hinwegspülen und das von Leidenschaft erhitzte Herz abkühlen.“

Abkühlen! Wer betet, hat also einen Weg beschritten, Abstand von seinen Leidenschaften zu nehmen. Abstand vom Zorn zum Beispiel und von all dem, was ihn zerreibt. Abstand von meiner Sorge um die Leitungskreiswahl. Das Gebet ist wie eine nötige Eistonne. Der Fußballer und der Bischof empfehlen ganz übereinstimmend Abkühlung, und was Leidenschaften wie Angst, Sorge oder Zorn angeht, weiß der Bischof, wo sie zu finden ist: im Gebet. Wer betet, wird verändert. Viele Menschen in der Bibel haben das erlebt. Zum Beispiel Asaf.

 

VON GEGEN-BITTE ZUR FÜR-BITTE

Es ist eine sehr gute Erfahrung, wenn Gegen-Bitte zu Für-Bitte wird – wenn man also anders aus dem Gebet herauskommt als man hineingegangen ist. Das hat Asaf erlebt. Sein Beten hat ihn umgeformt. Von Asaf stammt der 83. Psalm. Er ist ein Hilferuf angesichts vieler Feinde. Zu Beginn seines Gebets schildert Asaf, was diese Feinde Übles vorhaben – „Kommt, wir wollen das Volk Israel vernichten!“ (5) – und wie viele es sind. Die ethnischen Bezeichnungen, die Asaf aufzählt, lassen das Bild eines internationalen Aufmarsches entstehen, der sich rings um Israel zusammenzieht (6-9). Nach der Lagebeschreibung trägt Asaf Gott seine Bitten vor. Und die sind sehr eindeutig: Er will, dass die Feinde Israels umkommen. Er denkt dabei an die Geschichte seines Volkes, wie wir sie heute noch im Alten Testament nachlesen können. Asaf zählt die großen Gegner der Vergangenheit auf und erinnert sich, wie sie mit Gottes Hilfe besiegt wurden. „Ihre Leichen verrotteten auf der Erde“ (11). Dass Gott so etwas auch in der aktuellen Bedrohung tut, darum bittet Asaf: „Mein Gott, blase sie fort wie Staub, verwehe sie wie Spreu im Wind!“ (14). Das ist kein hochmütiges Gebet, aus Nationalstolz geboren, der das eigene Volk für überlegen hält, das eigene Imperium ausdehnen will und deshalb alle störenden Völker ringsum wegfegen möchte. Es ist vielmehr die Bitte eines kleinen, meist schutzlosen Volkes, das die meiste Zeit seiner Geschichte unter fremder Herrschaft stand und sehr oft mit Vernichtung rechnen musste. Asaf betet nicht von oben herab, sondern mit dem Rücken

zur Wand. Dennoch würden nur wenige heute solche Vernichtungsgebete gern mitbeten. Sie klingen einerseits verständlich, andererseits aber doch weit entfernt von dem, was Jesus über Feindesliebe sagte. Doch es wäre unsererseits hochmütig, wenn wir diesem Beter Israels das Recht bestreiten wollten, so zu beten, während wir selbst auf dem warmen Sofa sitzen. Mit diesen Bitten aber ist Asafs Gebet noch nicht zu Ende. Die Worte fließen weiter aus ihm heraus. Und im letzten Drittel des Gebets ändert sich langsam der Inhalt seiner Bitten. Ein neues Gebetsanliegen formt sich. Nach wie vor möchte Asaf, dass Gott an den Feinden handelt, aber nun nicht mehr so, dass sie dabei umkommen. Vielmehr sollen sie vor Gott erschrecken und vor den anderen lächerlich dastehen. Ihre Pläne sollen scheitern. Und das alles soll einem bestimmten Zweck dienen: „[…] dass sie anfangen, Herr, nach deinem Namen zu fragen. […]. Was sie auch tun, es soll ihnen misslingen, bis sie erkennen, dass du allein Herr genannt wirst, der Herrscher über die ganze Erde“ (17-19). Tote können nicht mehr nach Gott fragen. Leichen können Gott nicht erkennen. Die Gebetsziele von Asaf, die er zum Schluss nennt, setzen also voraus, dass die Feinde am Leben bleiben – dass Gott sie jetzt doch nicht umkommen lässt! Mit den Feinden soll etwas passieren. Sie sollen nach außen hin keine Gefahr mehr sein und zugleich sollen sie im Inneren verändert werden. Wenn sie dann wirklich Gott als Herrn erkennen und „nach seinem Namen fragen“, dann sind sie sogar dem Volk Gottes ein Stück ähnlich geworden. Dann stehen sie nicht mehr nur dem Beter Asaf gegenüber, sondern an seiner Seite – denn auch Asaf ist ja jemand, der nach Gott fragt und ihn als Herrscher der Welt bekennt. Das Gebet von Asaf hat sich verändert. Asaf hat sich vorwärtsgebetet. Er ist woanders angekommen, als er anfangs vorhatte. Aus der Gegen-Bitte ist eine Für- Bitte geworden. Das Muster von Gewalt und Vergeltung ist aufgebrochen. Am Ende steht nicht die Rache, sondern – wenn man so will – die „Bekehrung“ der Feinde. Mit diesem Psalm kann man nicht das gesamte Problem der sogenannten Rachepsalmen erklären. Es bleiben immer noch genug Psalmen in der Bibel, in denen die Bitte um Vergeltung tatsächlich das letzte Wort hat und das angestrebte Ziel ist. Aber im Gesamtbild der biblischen Rachepsalmen ist dieser 83. Psalm ein wichtiger Mosaikstein. Auch das gibt es, dass der Beter, während er betet, auf andere Gedanken kommt. Das Beten hat den Beter verändert.

 

LINIENBUS UND HEIßLUFTBALLON

Wer eine Gebetserfahrung macht, wie wir sie bei Asaf beobachten konnten, der hat eine besondere Art des Betens kennengelernt: das Heißluftballon-Gebet. Die meisten unserer Gebete gehören einem anderen Typus an, nämlich dem Linienbus-Gebet. So wie ein Bus eine Haltestelle nach der anderen anfährt, so steuern viele unserer Gebete ein Anliegen nach dem anderen an. Wir tragen es Gott vor, wir sagen, was wir brauchen, und danach geht es weiter zum nächsten Anliegen. So machen wir die Runde und haben am Ende alle Dinge angesprochen, bei denen wir Gottes Hilfe benötigen. Diese Art zu beten ist völlig okay, sie ist sinnvoll und entspricht unserem Verhältnis zu Gott: Er ist der Vater und der überreiche Herr; wir sind seine Kinder, die auf ihn angewiesen sind. Wenn Gottes Wort uns auffordert: „In allem sollen durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden“ (Phil 4,6), dann ist unser Gebet eben auch vollgepackt mit vielerlei Bitten. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass Paulus so viele verschiedene Worte für das Beten (Gebet, Flehen, Danksagung, Anliegen) verwendet. Dem entspricht eine Fülle verschiedener Bitten. Indem ich mit ihnen zu Gott komme (anstatt allein darüber nachzugrübeln und diese Sorgen bei mir zu behalten), ehre ich Gott, denn ich bekenne: Er ist der Geber guter Gaben, von ihm erwarte ich viel. Doch es wäre schade, wenn das Linienbus-Gebet der einzige Gebetstypus wäre, den wir praktizieren. Eine notwendige Ergänzung ist das Heißluftballon-Gebet. Eine Ballonfahrt startet an einem festgelegten Punkt. Die ungefähre Richtung der Reise kann man zuvor abschätzen, nämlich entsprechend der vorherrschenden Windrichtung. Aber wohin es dann wirklich geht und an welchem Fleck man schließlich landen wird, das ist ziemlich offen. Unter anderem darin liegt ja der Reiz einer Ballonfahrt. Es kann sein, dass der Wind zwischenzeitlich dreht. Es kann sein, dass die Richtung in höheren Luftschichten eine andere ist – oder dass zumindest die Windgeschwindigkeit ganz anders ist als in Bodennahe. Also darf man gespannt sein, wo man zur Landung ansetzen wird. Ganz ähnlich können manche unserer Gebetszeiten sein. Man hat anfangs im Kopf, was man vor Gott ansprechen mochte. Doch dann nimmt das Gebet seine eigene Richtung. Wir werden in Gegenden getragen, die wir so vielleicht noch gar nicht kannten – oder in durchaus wohlbekannte Gegenden, die wir für heute aber gar nicht im Blick hatten. Die Winde – oder besser gesagt: die Führungen von Gottes Geist – setzen uns dort ab, wo wir aus Gottes Sicht hingelangen sollten. Und von dort aus kehren wir dann in den Alltag zurück. Wir haben dafür einen neuen Ausgangspunkt bekommen. Das Heißluftballon-Gebet hat uns verändert. Wir wurden geformt, wie Asaf in Psalm 83 während seines Gebets geformt wurde. Ich erlebe das nicht nur beim stillen oder laut ausgesprochenen Gebet, sondern auch, wenn ich morgens vor dem Frühstück mein Gebet im Notizbuch aufschreibe. Plötzlich steht etwas da, von dem ich eben noch nicht wusste, dass ich es beten und schreiben wollte.

 

DER VERÄNDERUNG EINE CHANCE GEBEN

Meine Erfahrung ist: Beten in einem oft rasanten Alltag fallt nicht leicht. Fokussierte Zeiten müssen meist erkämpft werden oder zumindest bewusst geplant. Mir stehen zu oft die Gebetshindernisse vor Augen: Was wäre nicht alles erforderlich, um mehr Gebet in meinen Wochenablauf zu platzieren! Und wenn es gelingt, ist ja noch nicht ausgemacht, welche Qualität dann diese Zeiten haben, wie fokussiert ich also wirklich sein werde. Deshalb tut es mir gut, meinen Blick auf die überraschenden Möglichkeiten des Gebets zu lenken. Es ermutigt mich, wenn ich mir klarmache, was alles mit mir geschehen kann, wenn ich bete. So zu bleiben, wie ich bin, ist selten das, was ich brauche. Viel häufiger brauche ich Veränderung: eine neue Perspektive, eine neue Einstellung, eine neue Kraft, die von mir ausgeht. Wie gebe ich dieser Veränderung eine Chance? Ganz klar – indem ich bete …

 

Dieser Artikel erschien in AUFATMEN. Jetzt kostenlos testen: www.aufatmen.de

Den Dank-Tank wieder füllen

Von Martin Gundlach

Wer sich dafür entschieden hat, dankbar zu leben, braucht Orte, um diesen Lebensstil frisch zu halten. Aber wo sind diese Auftank-Orte zu finden?

Wer ein dankbarer Mensch werden will, trifft eine grundsätzliche Entscheidung dafür, diesen Weg zu beschreiten. Diese Entscheidung ist die Voraussetzung für Veränderung. Klingt einfach, ist es aber nicht.

Denn das ist nicht die ganze Wahrheit. Der Alltagstest zeigt (zumindest bei mir): Der Danke-Lebensstil ist flüchtig. Zumindest mir wurde eine Haltung der Dankbarkeit nicht in die Wiege gelegt. Kaum jemand entscheidet sich einmal dafür, ein dankbarer Mensch zu sein – und bleibt es dann einfach für den Rest seines Lebens.

Es ist beim Danken ähnlich wie beim Laufen oder Autofahren: Ist der „Dank-Tank“ voll, dann ist man damit eine Weile gut unterwegs. Aber irgendwann ist der Tank leer. Der Blick, der eben noch auf die Geschenke Gottes in unserem Leben gerichtet war, sieht plötzlich wieder die herumliegenden Socken der Kinder und die Bartstoppel-Reste des Göttergatten im Waschbecken. Dann wandern die Gedanken zur kranken Freundin und hin zur weltweiten Ungerechtigkeit. Der Ärger über den bornierten Kollegen steigert noch den Unmut über die Überforderung am Arbeitsplatz. Dankbar? Jeder von uns kennt die Momente, in denen einem zu allem anderen zumute ist, nur nicht zum Danken. Und solche Momente, Menschen und Situationen wird es immer geben.

Es gibt zwei gute Möglichkeiten, den leeren Dankbarkeits-Tank aufzufüllen. Die eine ist ruhig und findet eher in der Einsamkeit und Stille statt. Die andere vollzieht sich in Gemeinschaft und ist mit mehr Lautstärke verbunden. Die eine Form ist der Rückzug, die andere Möglichkeit ist das Zusammensein mit anderen.

Ich glaube, dass den meisten von uns dabei eine der beiden Tankstellen typmäßig näher liegt. Die eine freut sich seit Wochen auf die Stille-Tage. Die andere ist froh, wenn es nicht zu ruhig wird. Der eine freut sich auf einen lauten Lobpreis-Abend, der andere ist glücklich, wenn er abends keinen Menschen mehr sehen muss und im Rückzug und Alleinsein auftanken kann.

 

Den Tank füllen: Rückzug in die Stille

Christen aller Jahrhunderte haben sich in die Stille zurückgezogen. Von den Wüstenmönchen im 6. Jahrhundert bis hin zu den Stille-Tagen, die heute auch wieder viele christliche Freizeitveranstalter anbieten, gibt es eine lange Tradition. Im Neuen Testament lesen wir: Jesus selbst zog sich immer wieder aus dem Trubel zurück, um in der Stille Kraft zu schöpfen.

Am nächsten Morgen ging Jesus allein an einen einsamen Ort, um zu beten. Später suchten ihn Simon und die anderen. Als sie ihn gefunden hatten, sagten sie zu ihm: „Alle fragen nach dir.“ Doch er entgegnete: „Wir müssen auch in die anderen Städte gehen, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.“  Markus 1,35-38 (NLB)

Zwischen zwei herausfordernden Tagen ging Jesus in die Stille, um zu beten. Das tat er nicht aus pädagogischen Gründen. Um ein „gutes Vorbild“ zu sein nach dem Motto: „Schaut her, so sollt ihr das auch machen!“ Nein, er verschwindet eher heimlich, still, unauffällig und leise. Die Jünger mussten ihn erst suchen.

„Wo ist Jesus?“

„Keine Ahnung.“

„Dann ausschwärmen und suchen.“

Irgendwann finden sie ihn. Leicht vorwurfsvoll klingt es, wenn sie sagen:

„Alle suchen nach dir!“

Sie meinen: „Wo bist du? Was tust du? Wir haben doch noch viel vor!“ Jesus geht auf diesen Vorwurf gar nicht ein. Er hat in der Stille Kraft getankt. Jetzt ist er wieder voller Tatendrang:

„Wir müssen los, in die anderen Städte …“

Er weiß: Wer sich für andere einsetzen will, wer anderen helfen will, der braucht die Besinnung, den Rückzug.

Ähnliche Szenen finden wir im Neuen Testament immer wieder: Jesus allein an abgeschiedenen Orten. Dann wieder unterwegs und in Aktion. Stille. Trubel. Stille. Trubel. Es ist fast ein Takt zwischen Aktion und Ruhe zu erspüren im Wanderleben von Jesus.

Um ehrlich zu sein: Wir wissen nicht, wie Jesus diese einsamen Zeiten gestaltet hat. Aber offensichtlich ist: Er braucht die Ruhe. Er braucht das Alleinsein. Im Rückzug findet für ihn eine Konzentration auf das Wesentliche statt, ein Zurechtrücken der Prioritäten, Gottesbegegnung. Daraus kommt die Kraft für alles Weitere.

Ich will mich nicht mit Jesus vergleichen, aber die Erfahrung kenne ich auch. Wenn ich morgens zur Arbeit fahre und in Ruhe über den gerade begonnenen Tag nachdenke, anstatt Radio zu hören, in frühmorgendlicher Muffel-Laune vor mich hin zu nörgeln oder schon in Gedanken die ersten Fragestellungen aus meinem Büroalltag zu klären. Dann werde ich dankbar: für meine Frau, für meine Arbeitsstelle, für die Tatsache, dass ich lebe, mich bewegen kann, für meine Kinder, für die Großzügigkeit Gottes und und und… Dass ich all das erleben darf! Dass ich all diese Menschen kennen darf. Mit ihnen leben darf. Dass Gott so gnädig ist… Solche ruhigen Zeiten geben dem Tag ein völlig anderes Lebensgefühl, in dem Dankbarkeit unaufhaltsam wächst.

 

Den Tank füllen: in der Gemeinschaft

Für viele füllt sich der Dank-Tank eher in gemeinsamen Aktivitäten. Die können ganz unterschiedlich aussehen, haben aber eines gemeinsam: dass ich mich auf Augenhöhe und mit einem offenen Herzen mit anderen zusammentue.

Gemeinsam beten

Immer brauchen wir die anderen, die uns dabei helfen, die Danke-Spur zu halten. Alleine hängen wir vielleicht trüben Gedanken nach – und benötigen andere, um den Kopf wieder hoch zu bekommen. Das Beten ist manchmal einfacher, wenn wir es gemeinsam tun. Denn dann bleiben wir nicht nur bei uns und unserer Sicht, sondern können uns von den anderen inspirieren, ermutigen und mitnehmen lassen. Denn das Dankgebet des anderen hilft auch mir zum Danken – und umgekehrt.

Gemeinsam singen

Gerade Musik und Gesang sind eine wunderbare Form, gemeinsam unsere Dankbarkeit Gott gegenüber auszudrücken. Lieder helfen uns, eine Haltung der Dankbarkeit zu üben und sie zu bewahren.

Danke-Lieder haben eine lange Geschichte. Die Bibel ist voll von Lob-Psalmen, mit denen der einzelne oder die singende Gemeinde ihre Dankbarkeit Gott gegenüber ausdrückt. Immer und immer wieder wurden diese Lieder gesungen, weil man immer und immer wieder die Erinnerung brauchte und auch die Erfahrung machte: Es gibt so viele Gründe, Gott zu danken. „Danke, für alles, was du gibst, Herr!“

Gemeinsam etwas tun

Für manche ist es auch das Größte, gemeinsam mit anderen etwas zu tun. „Wie schön ist es, wenn wir gemeinsam etwas auf die Beine stellen!“ Gemeinsam einen Umzug stemmen, bei Freunden im Haus helfen, mit einer Gruppe eigener und fremder Kinder in den Zoo fahren. In der Gemeinschaft entwickelt sich Freude. Wer anderen hilft, hat am Ende müde Knochen, aber meistens ein dankbares, zufriedenes Grundgefühl:  Wir haben etwas Sinnvolles geschafft und vielleicht noch eine positive Rückmeldung bekommen.

Freiwillige aus den unterschiedlichsten Hilfsorganisationen sagen: „Die Menschen, denen wir geholfen haben, waren unendlich dankbar. Aber am meisten beschenkt waren wir, die wir ihnen geholfen haben.“ Andere freuen sich, wenn sie Geld zusammen bekommen haben, um Menschen in Not zu helfen oder eine besondere Freude zu machen. Das muss nicht immer etwas Spektakuläres sein. Einem Kind aus der Nachbarschaft bei den Hausaufgaben helfen, einen anderen zu einem schwierigen Arzttermin begleiten, sich gemeinsam um vernachlässigte Menschen kümmern – auch das sind wichtige Dinge.

Gemeinsam feiern

Die großen Dank-Feste Israels waren Gelegenheiten, sich zu freuen, sich an Gottes Heilshandeln zu erinnern und es zu feiern. Für die Israeliten war klar: Erinnern an die Gottestaten in der Vergangenheit und das Danken gehören zusammen.

So auch bei uns: Spontane Feste, lang geplante Feiern. Geburtstage, Feste im Kirchenjahr, Jubiläen, Hochzeitstage – das sind Erinnerungsorte, an denen wir uns bewusst machen können: Gott war mit uns – und er wird auch in Zukunft mit uns sein. Der Blick zurück bewirkt Dankbarkeit. Wir feiern das Gute, das uns widerfahren ist. Und schöpfen daraus Mut und Kraft für die Zukunft.

 

Leise oder laut?

Wie füllen Sie Ihren Dank-Tank auf? Eher in der Stille? Oder eher in der Gemeinschaft? Jedem Menschen liegt vielleicht einer der beiden Wege vom Typ her näher: Manche lieben es, alleine zu sein und müssen sich zu gemeinsamen Aktionen erst aufraffen. Andere lieben die Gemeinschaft, können aber mit Alleinsein oder Einsamkeit zunächst mal nichts anfangen. Und natürlich hat das auch etwas mit der persönlichen Lebenssituation und den Möglichkeiten zu tun. Das ist normal, das ist okay, diese Unterschiede zeichnen uns als Menschen aus.

Aber ich merke: Über die Länge der Zeit brauche ich beides. Und vielleicht profitiere ich am Ende vor allem in dem Bereich, der mir zunächst einmal fremd scheint. Als eher „lauter“ Typ taste ich mich also gerade an die Stille heran…

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Family.  Jetzt kostenlos testen: www.family.de