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Legenden über die Bibel: Die Rauchsäule

Von Dr. Ulrich Wendel

„Die Rauchsäule zeigt, was Gott gefällt“

Über die Bibel kursieren viele Ideen, die zwar populär sind, aber der Nachprüfung nicht standhalten: Maria Magdalena war eine Prostituierte, das „Nadelöhr“ war ein Stadttor in Jerusalem – und manches mehr…

Schon in der zweiten Generation der Menschheit passierte ein Mord. Kain erschlug seinen Bruder Abel. Die Szene gehört zu den bekanntesten Geschichten der Bibel: Kain, der Bauer, bringt einen Teil seiner Ernte als Opfergabe zu Gott. Abel, der Viehzüchter, macht es ebenso mit den erstgeborenen Schafen oder Ziegen seiner Herde. Gott nimmt das Opfer von Abel an, das von Kain aber nicht. Aus Neid und Zorn bringt Kain dann seinen Bruder um.

Wenn man versucht, sich die Szene plastisch vorzustellen, als die beiden Brüder ihre Gaben zu Gott bringen, dann erscheinen von dem inneren Auge ganz häufig ein oder zwei Altare. Dort lassen Kain und Abel ihre Gaben als Brandopfer in Rauch aufgehen. Und wer diese Geschichte im Kindergottesdienst gehört hat, der glaubt auch zu wissen, wie Kain erkennen konnte, dass Gott sein Opfer ablehnt: Während die Rauchsäule von Abels Opfer schön senkrecht aufsteigt, qualmt Kains Opfer vor sich hin und der Rauch verweht.

Ein so klares Erkennungszeichen dafür, was Gott gefällt, wäre vielleicht praktisch. Es würde uns auch helfen, diese biblische Geschichte besser zu verstehen. Aber die Sache mit der Rauchsäule steht schlicht so nicht in der Bibel.

Brandopfer – hier nicht!

Die Nacherzählungen der Bibel und die Illustratoren haben sich vielleicht davon anregen lassen, dass Gott bei anderen Brandopfern schon mal eingriff und anhand des Feuers klarmachte, wie er dachte. So wurde das Brandopfer Elias von Gott selbst entzündet, mit Feuer, das vom Himmel fiel (1. Könige 18,38). Das Fleisch und das Brot, das Gideon einem Boten Gottes vorsetzen wollte, wurde ebenfalls von Feuer verzehrt, als der Engel mit seinem Stab daran tippte. Hier schlug die Flamme vom Felsen zum Himmel empor (Richter 6,21). Und als die Eltern von Simson ein Brandopfer brachten, fuhr der Engel Gottes in der aufsteigenden Flamme aufwärts (Richter 13,20). All das waren Momente, in denen Gott sich zu erkennen gab.

Bloß: Bei Kain und Abel ist überhaupt nicht von einem Brandopfer die Rede, und auch einen Altar findet man im Bericht nicht. Im hebräischen Text steht einfach „Gabe“ – ein Wort, das später auch für eine Opfergabe verwendet wurde, aber sonst einfach „Dankgeschenk“ heißt.

Auf der Suche nach dem Erkennungszeichen

Wie haben die beiden dann erkannt, dass der eine von Gott angenommen, der andere aber abgelehnt wurde? Hier gibt es verschiedene Antwortversuche. Das Nächstliegende scheint zu sein, dass Abel später einen guten Ertrag seiner Herden hatte, Kain aber keine guten Ernten. Segen war im Alten Orient und im Alten Testament oft materiell erfahrbar. Die Szene von 1. Mose 4 hätte sich dann nicht innerhalb einer Stunde abgespielt, sondern zwischen Opfer und Mord hätte eine längere Zeit gelegen. Andere suchen die Erklärung in einer inneren Gewissheit der Opfernden. Abel hätte demnach irgendwie gespürt, dass er bei Gott willkommen war – vielleicht an der ungetrübten Freude, die er beim Opfern hatte. Kain hätte diese Freude gefehlt; vielleicht tat es ihm Leid um die schönen Feldfrüchte, die er da aus der Hand gab. Und dass solcher Missmut von Gott abgewiesen würde, das kann ihm dann klar geworden sein.

Diese Deutungsversuche zeigen: Man will etwas erklären, das die Bibel eben gerade nicht erklärt. Aus diesem Bedürfnis, vermeintliche Lücken im Bericht aufzufüllen, kommt wohl auch die Vorstellung von der senkrecht aufsteigenden Rauchsäule. Viele Bibelleser merken beim Lesen kaum, dass sie etwas „sehen“, was da gar nicht steht, das Feuer und die Altäre zum Beispiel.

Gott sieht das Herz an

Oft überlesen wird auch eine andere Einzelheit: wen oder was Gott denn genau wohlwollend ansah und wen oder was Gott ablehnte. Es war nicht das Opfer, mit dem bei Kain etwas schief lief. Gemeint ist nicht, dass seine Feldfrüchte nicht wertvoll genug gewesen wären, und auch nicht, dass Gott nur solche Opfer gemocht hätte, die mit Blutvergießen einhergehen (ja, auch so deuten einige diese Geschichte: Kains Fehler sei gewesen, dass er Gott ein unblutiges Opfer angeboten hätte)!

In Wirklichkeit sagt der biblische Bericht: „Der Herr blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.“ Gott interessiert sich also nicht für die Sache, sondern für die Person. „Der Herr sieht das Herz an“ (1. Samuel 16,7) – dieser Grundsatz ist schon auf den ersten Seiten der Bibel gültig. Was Gott an Kain auszusetzen hat und was ihm an Abel gefällt, das bleibt wieder im Unklaren. Auch hier füllen Leser und Ausleger gern die Lücke auf – zum Beispiel damit, dass Kain von vornherein neidisch auf Abel gewesen wäre. Aber auch das steht nicht im Bericht. Und Neid hätte ja allenfalls erst nach dem Opfer aufkommen können – nachdem Kain merkte, dass er zurückgesetzt worden war. Der Hebräerbrief sagt im Rückblick, Abel habe im Glauben geopfert, er habe Gott also vertraut. Vielleicht war dies der „Vorsprung“ von Abel (Hebräer 11,4).

Religion und Glaube

Äußerlich ist aber kein Unterschied erkennbar. Beide Männer kommen zu Gott und geben ihm etwas. Genau dies ist ja die Definition von Religion: Menschen suchen Gott und leisten etwas für ihn. Glaube im Sinne der Bibel ist gerade das Gegenteil: Gott sucht die Menschen und erwartet, dass sie sich einfach auf ihn verlassen. Der Unterschied zwischen Religion und Glauben ist von außen meist nicht erkennbar. Er wird auch im Bericht von 1. Mose 4 nicht aufgezeigt. Nur Gott hat den Durchblick.

Legenden über die Bibel wollen manchmal die biblischen Texte leichter fassbar machen. Sie tragen eine Anschaulichkeit hinein, die nicht alle Texte in sich haben. Für Bibelleser ist es immer eine gute Übung, das sehen zu lernen, was da steht. Das zu erkennen, was da nicht steht. Und manchmal die Schroffheit der biblischen Texte auszuhalten.

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Tobi, der Blinde?

von Tobias Hambuch

Namen sind mehr als Schall und Rauch: Sie können ihren Träger sympathisch und klug wirken lassen – oder auch das Gegenteil bewirken. Dabei haben Namen ihre ganz eigene Bedeutung. Viele stammen aus der Bibel und tragen oft eine Botschaft in sich.

Mein Name ist doch super, dachte ich immer. Ich heiße nicht Lukas, Johannes oder Mose und bin damit nicht nach einem hinlänglich bekannten Bibelbuch benannt. Andererseits ist mein Name dennoch biblisch, denn in den Apokryphen gibt es doch dieses kleine, aber feine Buch: Tobi(t). Da ist er schon, mein Spitzname! Alles bestens also: Mein Name hat biblisches Fundament und ist gleichzeitig nicht schnöde und langweilig, weil er in jedem dritten Kapitel vorkommt – wie beispielsweise Allerweltsnamen à la Nebukadnezar, Melchisedek und Co.

Wenn ich in die weite Welt hinausschaue, mache ich eine weitere durchaus interessante Beobachtung: Einen Politiker, Schauspieler oder Sportler, der regelmäßig in den Gazetten auftaucht und dabei den Vornamen Tobias trägt, gibt es nicht (belehrt mich gerne eines Besseren!). Damit will ich keinesfalls ausdrücken, dass jeder Tobi(as) nur Durchschnitt und nicht besonders erwähnenswert wäre. Vielmehr scheinen die Tobis dieser Welt nicht so stark interessiert am Blitzlichtgewitter, neigen also eindeutig zur Bescheidenheit.

Nähern wir uns nun aber diesem Tobit, Sohn eines Tobiel, und seinem Sohn Tobias (sehr erfindungsreiche Familie!). Denn da kommen doch tatsächlich die ersten Makel an der Perfektion dieses ach so wunderschönen Vornamens ans Tageslicht: Tobit ist alles andere als der Held der Bibel, der voller Tatendrang und Furchtlosigkeit ins Ungewisse schreitet – er ist zuallererst blind! Wie bitte? Blind? Das ist für mich auf den ersten Blick nicht die beste Voraussetzung, um etwas bewegen zu können. Möglicherweise soll mir das aber auch einfach einen Hinweis darauf liefern, woher meine Hornhautverkrümmung rührt und warum ich eine Brille auf der Nase trage! Spannend ist: Tobit wird durch Zutun seines Sohnes Tobias von seiner Blindheit geheilt und wird 112 Jahre alt. Das sind doch mal Aussichten! Gerne komme ich da nach meinen Namensvetter.

Kommen wir zum Schluss noch zur ursprünglichen Wortherkunft. Das Hebräische „tobijah“ bedeutet „Gott ist gut und gnädig“. Das spricht eine klare Sprache: Meine Eltern sehen mich als Geschenk Gottes an. Wahnsinn! Außerdem ist es eine über mein Leben ausgesprochene, gültige Wahrheit – schön, dass ich diese noch 88 Jahre lang kräftig auskosten darf.

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Vertrauter Schutzraum

von Dr. Ulrich Wendel

Wenn Gott uns anrührt, dann hat das oft große Wirkung. Aber diese Wirkung muss nicht von Dauer sein. Es kann auch sein, dass sie verpufft: Jesus sprach im Gleichnis von Vögeln, die das Wort wegpicken, oder von Dornen, die es überwuchern.

Wie kann man einen Ort schaffen, an dem das, was Gott an uns tut, geschützt ist und sich auswirkt? In unserer Gemeinde bieten wir seit Jahren regelmäßig nach dem Gottesdienst einen Fürbitte- und Segnungsdienst an. In einem Nebenraum ist ein Beter bereit – manchmal sind es auch zwei –, für das Anliegen zu beten, das jemand mitbringt. Das Gebet hat oft den Charakter der Fürbitte; das heißt: Beide kommen gemeinsam zu Gott und möchten etwas empfangen. Wenn es passt, mündet die Fürbitte aber auch in ein Segnungsgebet. Dann ist der Beter der Gebende und derjenige, der mit einem Anliegen kam, der Empfangende.
Der Wunsch, für sich beten zu lassen, kann ganz frisch in diesem Gottesdienst entstanden sein. Dann ist der Segnungsdienst der nötige Schutzraum, damit diese eben erst erfahrene Gottesbegegnung nicht im Alltag schnell wieder verblasst. Im gemeinsamen Gebet kann man vor Gott etwas festmachen. Oft kommen aber auch Menschen zum Segnungsdienst, die eine Sorge schon länger mit sich herumtragen. Sie wissen: Spätestens am kommenden Sonntag finde ich Menschen, die mit mir beten.
Genau darin liegt der große Gewinn dieses Angebotes: in der Regelmäßigkeit. Es ist unseren Gottesdienstbesuchern vertraut geworden, dass man für sich beten und sich segnen lassen kann. Das ist der Normalfall. Deshalb macht es auch nichts, wenn an manchen Sonntagen niemand kommt. Dass auf jeden Fall Beter da sind, wenn jemand hätte kommen wollen – das ist uns ganz wichtig.
In dieser meist recht kurzen Begegnung findet keine Beratung und keine Seelsorge statt. Das würde den Rahmen sprengen. Wir wollen aber auch nicht den Eindruck vermitteln, dass jedes Problem mit einem Gebet zu „reparieren“ wäre. Deshalb empfehlen wir, wenn es angebracht ist, sich weitergehende seelsorgliche Hilfe zu suchen.
Für mich ist es bewegend, wenn ich später Menschen in der Gemeinde begegne, von denen ich weiß: Für die dürfte ich beten, sie haben Gottes Segen empfangen, Gott hat etwas in ihr Leben hineingelegt. Es berührt mich auch, wenn ich erlebe, dass gestandene Männer im Gebet ihre Tränen nicht zurückhalten müssen – dieser Schutzraum ist da. Vor einiger Zeit suchte ein jüngerer Mann den Gebetsdienst auf, weil eine wichtige Entscheidung vor ihm lag. Wir beteten um Gewissheit und inneren Frieden. Ein paar Wochen später wurde seine bevorstehende Hochzeit bekanntgegeben. Und ich freute mich still: Da hat Gott gewirkt, und unser gemeinsames Gebet konnte etwas dazu beitragen.

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Unbekannte Personen der Bibel: Urija ben Schemaja

von Dr. Ulrich Wendel

Hat Gott seinen Diener vernachlässigt?

„Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ heißt ein erfolgreich verfilmter Roman, und es gab schon immer viele Menschen, die ihr eigenes Leben so beschreiben würden. Auch in der Bibel bildet sich die Ungerechtigkeit der Lebensschicksale häufig ab. Urija ben Schemaja ist so einer, dem das Leben offenbar unfair mitgespielt hat.

Urija war ein Zeitgenosse des Propheten Jeremia. Er stammte aus Kirjat-Jearim, einer Stadt, die gut 25 Kilometer von Jeremias Heimatort Anatot entfernt lag. Beide Männer hatten viel gemeinsam: Sie lebten unter demselben König, Jojakim. Wie Jeremia war auch Urija ein Prophet – und sie hatten dieselbe Botschaft: Sie sprachen im Namen Gottes gegen das Land Juda und die Mächtigen in Jerusalem, denn diese hatten Gottes Wege verlassen.

Für diese mutige Botschaft musste Urija einen hohen Preis bezahlen. Nichts war damals verwerflicher als die göttlichen Vorzüge von Jerusalem in Frage zu stellen. König Jojakim plante Urijas Hinrichtung. Der Prophet erfuhr davon und floh nach Ägypten. Doch Jojakim hatte politische Verbindungen dorthin. Er schickte ein Kommando hinterher, ließ Urija zurückholen, mit dem Schwert hinrichten und seinen Leichnam unehrenhaft verscharren (die Geschichte steht in Jeremia 26,20-24).

Kollege Jeremia stand in der gleichen Gefahr. Doch er hatte einen einflussreichen Beamten des Königshofes hinter sich stehen, der seine Hand über ihn hielt. So kam Jeremia mit dem Leben davon, und das mehr als einmal. Urija aber hatte niemanden auf seiner Seite. Und auch Gott schützte ihn nicht. So viel zum Thema Gerechtigkeit.

Keine falschen Schuldzuweisungen!

Manche Bibelausleger machen Urija zum Vorwurf, dass er nach Ägypten geflohen ist. Anstatt sich auf Gott zu verlassen, habe er selbst für seinen Schutz sorgen wollen. Doch diese Erklärung ist wohl nur ein Versuch, die drängende Frage nach der Gerechtigkeit zu übertünchen. Der biblische Bericht hat an der Flucht von Uirja nichts auszusetzen. Im Gegenteil – auch Jeremia musste sich in einer bestimmten Situation einmal vor König Jojakim verstecken. Der Bericht kommentiert das mit den Worten, dass Gott selbst ihn – den fliehenden Propheten – verborgen hielt (Jeremia 36,18). Auch früher schon war es ein Zeichen der Treue zu Gott gewesen, wenn jemand Propheten vor dem rachsüchtigen König versteckte (1. Könige 18,3-4). Man kann also Urija nicht vorwerfen, er sei eigenmächtig davongelaufen und also selbst Schuld an seinem Schicksal.

Wir müssen zunächst einfach anerkennen: Gott behandelt nicht jedes seiner Kinder gleich. Und Gott gibt auch nicht jedes Mal eine Erklärung dafür, warum er seine Leute ungleich behandelt. Wir leben in einer Welt, in der Menschen einander Schaden zufügen, ja einer den anderen tötet. Gott schiebt dem manchmal einen Riegel vor – aber nicht immer. Zuweilen lässt er dem Bösen seinen Lauf, auch wenn das seine Diener das Leben kostet. Auch im Neuen Testament steht beides hart nebeneinander: Der Apostel Petrus wird ins Gefängnis geworfen, aber durch ein Wunder befreit – und kurz vorher ist der Apostel Jakobus geköpft worden, ohne Wunder, ohne Rettung (Apostelgeschichte 12,2-11).

Aus dem Abstand betrachtet

Das einzige, was manchmal (!) hilft: Einen Schritt zurücktreten und das Gesamtbild betrachten. Die Jahre verstreichen lassen und sehen, was zu allerletzt herauskommt. Bei Jeremia war es so: Immer wieder hatte er einflussreiche Fürsprecher, die ihm das Leben retteten. Gott schenkte ihm eine längere Lebenszeit als Urija. Am Ende allerdings war Jeremia dann doch ein Spielball der Judäer, denen er die ganze Zeit treu Gottes Wort gesagt hatte. Sie verschleppten ihn nach Ägypten – wo sich dann sein Weg verliert. Der Überlieferung zufolge wurde er von seinen Landsleuten gesteinigt. Letzten Endes ging es ihm also nicht besser als Urija. Es traf ihn bloß später.

Bei Petrus war es vermutlich ähnlich. Anders als Jakobus war er gerettet worden, doch frühe christliche Historiker sagen, er sei später in Rom hingerichtet worden. Dasselbe Muster also: Auch der, den Gott beschützte, blieb zum Schluss nicht verschont.

Vielleicht ist der Unterschied zwischen Urija und Jeremia doch nicht so groß. Aus menschlicher Perspektive zwar durchaus: Jahre und Jahrzehnte weiterleben dürfen oder nicht, das ist ein Riesenunterschied! Doch am Ende warteten auf beide die Mörder. Und am Ende hieß es für beide auch: Man hat ihnen nicht geglaubt, ihre Botschaft kam nicht an. Am Erfolg gemessen, war Jeremia gescheitert. Urija ebenso – bloß früher. Sein Leben blieb ein Fragment.

Lebenssinn trotz Scherben

Aber es gibt auch Fragmente, die in tieferem Sinn vollständig sind. „Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente … die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen … Wenn unser Leben auch nur ein entfernter Abglanz eines solchen Fragmentes ist, … dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“ Das schrieb Dietrich Bonhoeffer – auch einer, den Gott am Ende nicht beschützt hat, als er seinen Mördern in die Hände fiel.

Zum größeren Bild, aus dem Abstand betrachtet, gehört schließlich auch dies: König Jojakim, der Urija wie einen ehrlosen Verbrecher verscharren ließ, erlitt am Ende dasselbe Schicksal: Seine Leiche sollte den Tieren auf dem Feld vorgeworfen werden (Jeremia 22,19; 36,30). In der Tat – die Bibel erwähnt seinen Tod, aber weder Begräbnis noch Trauer (2. Könige 24,6).

Ist das ausgleichende Gerechtigkeit? Hat jemand wie Urija etwas davon, wenn es am Ende den anderen auch nicht besser geht? Unterm Strich hilft wohl nur das Vertrauen: Auch wenn Menschen einander töten – Gott ist es, der über die Dauer eines Lebens entscheidet. Und an Gott liegt es auch, dass ein Leben erfüllt sein kann, selbst wenn es zu früh endet. Nein, Gott behandelt nicht jeden gleich. Doch seine Zuwendung und Zuneigung sind nicht geringer, auch wenn jemand ein Leben voller Belastungen und Grenzen führen muss.

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So wäre ich gerne …

Von Pfarrer Hanspeter Wolfsberger

Der 13. Opferkasten im Tempel – aussehend wie eine auf dem Trichter stehende Posaune –war der Platz für Spenden mit dem Zweck „wo am Nötigsten“. Der dabei stehende Priester nahm die laut zu äußernde Spendensumme zur Kenntnis, bestätigte sie, kommentierte sie wohl auch manchmal – vor allem, wenn sie gering war in seinen Augen –, und wer in der Nähe war, hörte es.

Jesus war in der Nähe. Und hörte deshalb, wieviel diese Frau einlegte. Eine verarmte Witwe, heißt es. Das heißt: So sah sie auch aus. Sie hatte einen ungünstigen Moment erwischt, ihre Gabe abzugeben. Vor ihr waren etliche reiche Leute „benannt“ worden. Nun kam sie – mit fast nichts. Der laut gewordene Unterschied war schon akustisch krass. Als die Frau abdrehte und die sogenannten „Schatzkammer“ verließ, kam sie an Jesus vorbei. Er sah sie an, und er sah – das Mehr. Das in ihrer Gabe Verborgene umwehte sie. Das Eigentliche. Der von Gott gesuchte „wohlgefällige Geruch“, wie die Rabbinen lehrten. Das, was Gott aufregend findet, weil es sein Herz berührt. Und Jesus sagte leise zu seinen Jüngern: „Sie hat ihre Armut gegeben, ihren bios, ihr Leben.“ (Markus 12,41ff / Lukas 21,1 ff)

Was da in den Opferkasten hinunter klimperte, war materiell zu vernachlässigen. Schon das Porto für eine Zuwendungsbescheinigung war teurer als die Gabe selbst. Aber diese Mini-Gabe war etwas seltsam Ganzes. Etwas zum Himmel hinauf Gegebenes. Etwas dort Angekommenes und Verwandeltes.

 

Man erlaube mir die Assoziation: Wenn so meine Mitarbeit im Reich Gottes wäre, auch und vor allem als Verkündiger und in Beziehungen: Das Wenige, die eigene Armut Gott hinhalten, weil ich mehr nicht habe: „Da, Jesus, mein Leben. Mach was draus. Egal was. Aber mach was draus!“

Zeuge sein ohne künstliche Ergänzungsmittel. Ohne die Armut schönredende Performance. Ohne „Auftritt“, ohne verbale Vorführung. Ohne gestische oder auditive Wirkungsverstärker. Dafür zutiefst bescheiden, entwaffnend ehrlich, heiter und spürbar darauf angewiesen, dass der Himmel selbst sich erbarmt und Feuer auf die hingehaltene Opfergabe fallen lässt…

Ein chassidischer Rabbi besuchte ein auswärtiges Bethaus. Unter der Tür blieb er jedoch stehen und weigerte sich, hinein zu gehen. Er erklärte: „Ich kann nicht hinein. Das Haus ist vom Boden bis zur Decke voll mit hier geäußerter Lehre und mit Gebeten.“ Er fuhr fort: „Die Worte, die über die Lippen der Lehrer und Beter gehen und die nicht aus einem auf den Himmel ausgerichteten Herzen kommen, die verlassen den Raum nicht, sondern füllen ihn nur. Darum ist hier kein Platz mehr.“

„Sie hat ihre Armut gegeben, ihren bios, ihr Leben.“

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