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„Wir sind Bürger des Himmels“

Franziska Klein

Wir fahren in der gleißenden Augustsonne durch urige Orte, über gewundene Straßen und unzählige Hügel bis hin zu einem Dorf, das uns wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten vorkommt. Die ärmlichen Hausfassaden und ungeteerten Wege sind mir fremd, während sie bei meinem Vater Erinnerungen Farbe verleihen. Einen engen Pfad den Hügel rauf erreichen wir ein eisernes Tor, auf dem in alter deutscher Schrift „Ort der Ruhe“ steht. Kurze Zeit später stehe ich mit meinen Eltern und Geschwistern an dem Familiengrab, in dem meine Urgroßeltern begraben wurden. Ein seltsames Gefühl. Ich stehe auf einem deutschen Friedhof in einem abgelegenen Dorf in Rumänien, 1.400 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ich in Deutschland aufgewachsen bin. Auf diesem mir fremden Fleckchen Erde ist meine Großmutter aufgewachsen und mein Vater nennt es seine alte Heimat. Dieser seltsamen Mischung aus vertrauten und unbekannten Gefühlen begegne ich mit Neugierde, aber auch mit Befremden. Dieser Ort hat mit mir zu tun, ist eng verbunden mit meiner Familiengeschichte, aber Heimat kann ich ihn nicht nennen.

Meine Heimat, das Schwabenland:
Geboren und aufgewachsen bin ich im Schwabenland. Aufgrund meiner siebenbürgisch-sächsischen Prägung hatte mein Deutsch einen markanten Akzent, sodass ich bis in die Mitte meiner 20er hinein gefragt wurde, wo ich denn ursprünglich her käme. Die Leute waren mit meinem eingeübten Satz zufrieden: Ich bin hier geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern sind Spätaussiedler aus Rumänien. Als Kind und auch noch als Jugendliche war mir die Herkunft und Andersartigkeit meiner Eltern stellenweise peinlich. Ich wollte einfach dazugehören und in meiner schwäbischen Grundschule nicht auffallen. Ich erinnere mich, dass ich als Kind manchmal „Ausländerin“ spielte. Ich verkleidete mich und sprach eine erfundene Sprache, obwohl ich nur Deutsch konnte. Ich war ein kleines, blondes Mädchen, dessen auffälliger Akzent eine bleibende Erinnerung war, dass das Schwabenland sich nie vollständig wie Heimat anfühlen würde.

Auf der Suche nach einem Gefühl:
Nach dem Abitur zog es meine Schulkollegen und mich die Ferne. Raus aus der kleinstädtischen Provinz, zuerst weit weg ins Ausland und dann zum Studium in eine Universitätsstadt. Beim
Ersti-Frühstück der Geschichtswissenschaftler lerne ich zum ersten Mal, dass zwischen Baden und Schwaben Vorurteile bestehen. Ich, 19 Jahre im Schwabenland gewohnt, hatte noch nie davon gehört. In Heidelberg komme ich zwar aus dem Schwabenland, aber finde in der bunten, internationalen Studentenschaft schnell meinen Platz. Die Wahlheimat für ein paar Jahre – ein absoluter Glücksgriff . Heimat, so entdecke ich in diesen Jahren, ist für mich kein Ort, sondern mehr ein Gefühl. Ein Gefühl von Angekommen sein. Trotz mehrerer Umzüge ins Ausland und innerhalb Deutschlands lebe ich mich immer schnell ein, finde neue Freunde und mache den neuen Ort zu meinem Zuhause. Irgendwann sage ich den Satz: Heimat ist, wo meine Bücher stehen.
Sobald ich länger als zwei Wochen an einem Ort bin, verschaffe ich mir einen Überblick über die Stadtkarte, stelle persönliche Gegenstände auf und sortiere meine Bücher griff bereit. Ich schaffe mir mein Zuhause, meinen temporären Heimathafen. Momentan stehen meine Bücher in meiner neuen Wahlheimat Frankfurt am Main. Nach anderthalb Jahren fühle ich mich in der Stadt angekommen. Und wenn sich die Skyline am Horizont emporhebt, spüre ich ein Kribbeln im Bauch. Es ist eine Mischung aus Verwurzelung und einer Leichtigkeit, die mein Heimatgefühl beschreibt. Es ist nicht statisch, sondern wandelbar und lässt sich mitnehmen.

Zurückkehren:
Viele meiner Schulkameraden hat es nach Jahren des Weltenbummelns wieder zurück in das Schwabenland gezogen. Das Fernweh junger Jahre ist gestillt und die Sehnsucht zu „settlen“ irgendwann stärker. Das Bedürfnis nach Sicherheit hat den Drang nach Freiheit übertrumpft. Wenn ich nach Hause zu meinen Eltern fahre und die schwäbische Alb in der Ferne auftaucht, fällt mir mittlerweile auch auf, was für ein idyllisches Fleckchen das doch ist. Im warmen Herbstlicht erinnert es mich hier ein bisschen an das Auenland. Doch die Stadt meiner Kindheit hat sich baulich komplett verändert, ich kenne die Straßennamen und Buslinien nicht und mein Jugendzimmer im Haus meiner Eltern existiert nicht mehr. Ein wohliges Gefühl überkommt mich dennoch, wenn mich im Hausflur unzählige Schuhe empfangen und meine Mama nebenher drei Kuchen backt, weil im Laufe eines Samstagnachmittags jede Menge Gäste vorbeischauen. Mein Zuhause-Gefühl bei meinen Eltern entspricht dieser Atmosphäre. Die Gastfreundschaft meiner Eltern und das Ein- und Ausgehen vieler Menschen, die ankommen und für einen Moment ihr
Leben teilen. Hier bin ich aufgewachsen, hier komme ich gern auf einen Besuch vorbei. Doch meine Heimfahrt trete ich Sonntagabend Richtung Frankfurt an.

Für Immer:
Mein Heimatbegriff ist lose – mehr ein Sicherheitsgefühl als eine Herkunftsregion. Es ist das Gefühl, dass ich an einem Ort angekommen bin – auch wenn die Empfindung mehr mit mir, den Menschen in meiner Umgebung und auch mit meinem Glauben an Gott zu tun hat. Ich fand es lange Zeit seltsam und weltabgewandt, wenn fromme Menschen ausdrückten, dass ihre wahre Heimat im Himmel sei. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, was Heimat für mich bedeutet, passt das eigentlich ganz gut. Wenn es in Philipper 3,20 heißt „Wir sind Bürger des Himmels“ drückt das ein Gefühl aus, das kein Mensch mir geben oder nehmen kann. Ich bin bei Gott angekommen und angenommen. Meine Heimat bei ihm zu verorten, bedeutet Sicherheit und Gastfreundschaft in dieser Welt zu genießen, ganz gleich, woher ich komme. Bei Gott Heimat zu finden, bedeutet, dass ich einen Platz habe, Rechte zugesprochen bekomme und ein Versprechen, das für immer gilt.

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Vom Ende der Gemütlichkeit

David Werner

Im vergangenen Dezember sieht sich David herausgefordert, seine festlich-familiäre Komfortzone zu verlassen. Er beschließt das Weihnachtswunder in diesem Jahr unter den Obdachlosen auf den Straßen Hannovers zu suchen. Dafür bekommt er eine neue Dankbarkeit geschenkt.

„Wenn Gott redet, ist die Gemütlichkeit zu Ende“. Als ich diese Worte von Peter Hahne, dem aus dem ZDF bekannten christlichen Fernsehmoderator und Buchautor, einige Wochen vor Weihnachten am Frühstückstisch höre, passiert erstmal nicht viel. Ich mache mich wie geplant auf den Weg zur Bahnhaltestelle, döse auf der 45-minütigen Fahrt durch die Dunkelheit immer wieder ein und bin doch nicht wirklich ausgeschlafen, als ich schließlich, so richtig hell ist es immer noch nicht, an meinem Arbeitsplatz ankomme.

Worte, die mich nicht mehr loslassen

Für gewöhnlich kann ich mir Bibelverse, Zitate oder andere Weisheiten eher schlecht merken. Auch bei der Kurzzeitbibelschule, die ich vor einigen Jahren besucht hatte, schafften es die meisten Verse, die es auswendig zu lernen galt, nur ins Kurzzeitgedächtnis. Dieses Mal ist es anders. Die Tage vergehen, Weihnachten rückt immer näher und Peter Hahnes provokant formulierter Vers geistert immer wieder durch meinen Kopf.

Zwar ziehe ich Ferienwohnungen dem Campingplatz vor und dusche auch nur dann mit kaltem Wasser, wenn die Warmwasseraufbereitung mal wieder nicht funktioniert. Trotzdem würde ich mich nicht als jemanden beschreiben, der sein Leben nach Komfort und Gemütlichkeit ausrichtet. Für Weihnachten im Kreis der Familie, den Spätgottesdienst an Heiligabend in der bekannten Kirche und ein bisschen Gemütlichkeit kann ich mich in diesem Jahr dennoch erwärmen.

Rückkehr in eine fremde Welt

Ein paar Wochen später, es sind nur noch wenige Tage bis zum Christfest, sitze ich in einem mit „Weihnachtstouristen“ gefüllten ICE und bin auf dem Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt. Aller Vorfreude auf ein gemütliches Weihnachten zu Hause zum Trotz habe ich mich bei „Christmas in the City“, einer sozial-missionarischen Einsatzwoche in Hannovers Drogenszene, angemeldet. Was mich bei der von „Neues Land“, einer christlichen Drogenarbeit mit mehreren Therapiehäusern, organisierten Aktion erwartet, weiß ich einerseits schon, da es nicht das erste Mal ist, dass ich an diesem besonderen Weihnachtsprogramm teilnehme. Andererseits ist es wieder ein Schritt in eine fremde Welt: Es erwarten mich Begegnungen mit Menschen, die vom Leben nichts mehr erwarten und sich aufgegeben haben. Menschen, die die Hoffnungslosigkeit, in der sie gefangen sind, nicht mehr verstecken (können).

Meine neue Dankbarkeit

Es dauert ein paar Tage bis ich die ersten Berührungsängste überwunden habe, ohne Scheu auf die Menschen zugehen kann und dann häufig „nur“ zuhöre. Ich höre viel von Kinder- und Jugendzeiten, die alles andere als behütet waren und werde dabei neu dankbar für meine Familie und die Zuneigung, die ich von meinen Eltern erfahren habe. Es geht um gescheiterte Therapien, bei manchem waren es Dutzende, mal sind es betrogene Arbeiter aus Osteuropa, die auf Hannovers Straßen gestrandet sind, und von dort nicht mehr wegkommen.

Bei allem Zerbruch und Getrieben sein, dem man sich nicht entziehen kann, wenn man sich den Menschen zuwendet, nehme ich auch eine große Wertschätzung für unseren Dienst wahr. Ein ehrliches „Danke“ oder ein liebevolles Lächeln für einen Kaffee von einem vom Leben gezeichneten Mann, der ansonsten niemandem vertrauen kann, in der Obdachlosenunterkunft sogar sein Hab und Gut, zusammengepackt und verstaut in wenigen Gepäckstücken, mit auf die Toilette nimmt, sind in diesen Tagen unser Lohn.

Obdachlose, Alkoholiker und Drogenabhängige werden nicht nur in Hannover so gut es mit legalen Mitteln geht an den Rand der Gesellschaft geschoben. Die Substitutionsprogramme versorgen viele täglich auf Kosten der Beitragszahler mit der notwendigen Ration „Stoff“. Hilfe beim Ausweg gibt es kaum.

Jesus schenkt Freiheit

Je näher Heiligabend rückt, desto voller werden die Straßen. Reisende gehen eilenden Schrittes zum Bahnhof, um noch rechtzeitig daheim anzukommen.

Diejenigen, die kein Zuhause haben, ihre Nöte mit Alkohol und Drogen betäuben, haben wenig Vorfreude auf die Feiertage. Der Verlust von Angehörigen oder Weggefährten wiegt in diesen Tagen noch schwerer, die Einsamkeit verfolgt manchen wie ein treuer Begleiter.

Ich fühle mich in der Zwischenzeit angekommen, habe viele der 90 anderen Teilnehmenden von „Christmas in the City“ etwas besser kennengelernt und empfinde Freude daran, Zeit mit den Menschen auf der Straße zu verbringen. Besonders begeistern mich die Unterhaltungen mit anderen Mitarbeitenden, ehemaligen Drogenabhängigen, die bereits seit Jahren ein Leben in Freiheit führen, eine Therapie erfolgreich durchlaufen haben und nun auch mit Jesus durchs Leben gehen. Sie haben eine besondere Leidenschaft für ihre ehemaligen Weggefährten, die immer noch im Sumpf der Abhängigkeit feststecken und für die sich die Spirale fortwährend nach unten bewegt. Von Jahren auf der Straße, Gefängnisaufenthalten und der Zerstörung, die die illegalen Substanzen auch in ihrem Leben angerichtet haben, gezeichnet, verbreiten sie nicht nur in der Weihnachtszeit Hoffnung auf ein Leben in wirklicher Freiheit.

Heiligabend im SOS-Bistro

Als in den Kirchen der Stadt Tausende gerührte Kehlen „O du Fröhliche“ schmettern, wird die Menschenschlange vor dem „SOS-Bistro“, dem Hauptquartier von „Neues Land“ in Hannover, immer länger. Die Weihnachtsfeier im Rahmen von „Christmas in the City“ ist für viele zu einer festen Institution an Heiligabend geworden. Es ist der Platz, der diejenigen aufnimmt, die (nicht nur) an Heiligabend niemanden haben.

Im Innern geht es kurz vor dem Einlass geschäftig zu: Die Helfer in der Küche nehmen Stellung, um das Essen zu servieren, der Punsch wird portioniert und findet schnell nach Öffnung der Türen dankbare Abnehmer. Nicht nur ich frage mich mit kindlicher Spannung: „Sehen wir einige von denen wieder, die wir in den vergangenen Tagen kennengelernt und eingeladen haben?“

Es wird ein stimmungsvoller Abend. Die vielen Gäste fühlen sich sichtlich wohl und sind erleichtert, den Heiligen Abend nicht allein verbringen zu müssen. Nach der Weihnachtsgeschichte überreichen Kinder den gerührten Gästen schließlich die Geschenke, gespendet von christlichen Gemeinden aus der Umgebung. Ich ertappe mich, wie meine Augen im Laufe des Programms umherstreifen und die Besucher mustern. So mancher Anblick führt zu einem Schmunzeln, z.B. über einen Gast, der während seines Aufenthalts seine überdimensionierten Kopfhörer nicht abnimmt. Auf vielen der von Enttäuschungen und Tiefschlägen gezeichneten Gesichtern ist ein Lächeln zu sehen. Es ist Weihnachten geworden, mitten in Hannover und hoffentlich in vielen Herzen.

Was bleibt

„Ich muss hier raus, das ist mir zu viel Liebe“, höre ich eine junge Frau von ihren Gefühlen überwältigt sagen, bevor sie mit glasigen Augen den Raum verlässt. Es gab schon schlimmere Gründe, warum Menschen gegangen sind, denke ich mir.

Was bleibt nach acht Tagen „Christmas in the City“? Es sind wohl die vielen Begegnungen mit den Menschen in den dunklen Ecken Hannovers. Es ist die Hoffnung, dass sich der eine oder andere im neuen Jahr auf den Weg macht, seine Drogensucht hinter sich zu lassen und mit einer Therapie zu beginnen. Und es bleibt die Gewissheit, dass Jesus diese Menschen liebt! So sehr, dass er es vor über 2.000 Jahren Weihnachten hat werden lassen.

 

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„Viele wollen nicht im Kreis sitzen und Tee trinken“

Marietta Steinhöfel

Im Frühjahr 2017 hat die Kirche im Pott in Bochum ihr Hauskreis-Konzept komplett umgestellt: Gruppen können ab sofort ihr Hobby zum Thema machen und sind zwölf Wochen lang zusammen unterwegs, um geistlich zu wachsen. Pastor Renke Bohlen und Bereichsleiter Markus Bräuer erklären das Modell.

 

Im März 2017 habt ihr als Kirche das „Trimester“ gestartet.  Zwölf Wochen lang sind Gruppen zu einem bestimmten Thema oder Hobby unterwegs. Es gibt zum Beispiel eine Longboard- und eine Playstation-Gruppen.

Markus Bräuer: (lacht) Playstationspielen ist voll okay! Aber drei Sachen sollten in Familygroups – so nennen wir unsere Kleingruppen – immer vorkommen: Gemeinschaft, Gebet und geistliches Wachstum.

Wie kann man beim Zocken oder beim Longboarden geistlich wachsen?

Markus Bräuer: Natürlich ist es beim Zocken oder Longboarden direkt nicht möglich geistlich zu wachsen. Allerdings können bei diesen Aktivitäten Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden. Mit diesen festeren und tieferen Beziehungen wird es dann auch leichter sein, sich geistlich zu öffnen und zu stützen. Wir geben unseren Leitern auch mit, dass sie mindestens einmal pro Treffen mit der Gruppe zusammen beten.

Wenn ich es recht verstanden habe, kann jeder die Leitung einer solchen Gruppe übernehmen.

Renke Bohlen: Ja, genau. Wir geben ganz viel Vertrauen in die Kirche hinein. Wir hoffen, dass Leute sagen: „Ich habe momentan Bock an diesem Thema zu arbeiten und vielleicht gibt es andere, die sich mir anschließen möchten!”

Das klingt herausfordernd für Leute, die so etwas noch nie gemacht haben. Gibt es eine Form der Begleitung?

Markus Bräuer: Ja, auf jeden Fall! Vor dem Trimester gibt es immer eine Schulung, wo wir Tipps geben und unsere Werte erklären. Wir haben mit jedem Leiter, der vorher noch nicht geleitet hat, ein persönliches Gespräch. Und während des Trimesters gibt es für jeden Family-Group-Leiter einen Coach, der sich regelmäßig bei ihm meldet, für ihn da ist und für ihn betet. Wir sprechen aber auch Leute von uns aus an, bei denen wir uns das gut vorstellen können, dass sie eine Gruppe leiten könnten.

Renke Bohlen: Das war sogar der Großteil der Leute! Die, die wir angesprochen haben, waren auch direkt begeistert und haben mitgemacht. Und das finde ich, ist das Schöne daran, dass man Menschen hilft und sie ermutigt etwas zu tun, das sie sich vorher vielleicht nie zugetraut hätten.

Wo seid ihr erstmalig auf das Konzept gestoßen?

Renke Bohlen: Bei einer Konferenz in Nürnberg hat der Leiter der Church of the Highland, erzählt, dass sein Vater, der nie in einen Hauskreis gegangen ist, eine Motorradgruppe aufgemacht hat. Dort hat der Vater seine besten Kumpels kennengelernt und sie haben sich auch noch geistlich stärken können. Da dachte der Sohn: Boah, das will ich auch! Und das dachte ich mir auch. Ich kenne so viele unterschiedliche Menschen in unserer Kirche, die nicht im Kreis sitzen und Tee trinken wollen. Das ist für die nichts. Da wünsche ich mir, dass wir Gruppen bilden, auf die die Leute echt Bock haben – zum Beispiel eine Motorrad oder Angel-Gruppe. Wir sammeln uns dabei um ein gemeinsames Interesse – das ist aber nicht der Kern! –, sondern, dass wir uns geistlich fördern und füreinander da sind!

Was hat dich an dem Konzept im Vergleich zu vielleicht eher klassischen Hauskreisen angesprochen, die über einen langen Zeitraum hinweg laufen?

Renke Bohlen: Ich muss sagen, am Anfang war ich extrem skeptisch. Ich bin jahrelang leidenschaftlicher Jugendpastor gewesen und habe Kleingruppen begleitet, wo über drei, vier Jahren enge Verbindungen untereinander entstanden sind. Ich habe das geliebt! Das war auch mein Traum für die Kirche im Pott anfangs. Aber ich musste einsehen, dass eine Jugendgruppe in der Kleinstadt nicht mit einer Gesellschaft im Ballungsgebiet wie dem Ruhrgebiet zu vergleichen ist. Die Interessen der Menschen hier sind extrem verschieden und die Gruppen sind sehr dynamisch. Bei zwölf Wochen hat man nichts zu verlieren. Die Leute können es einfach ausprobieren. Auch wenn man nicht weiß, wo man in einem halben Jahr vielleicht wohnen wird, kann starten. Und man bekommt die Möglichkeit, Verantwortung und Mitarbeit auszutesten.

Können in einem kurzen Zeitraum überhaupt  enge Verbindungen entstehen?

Renke Bohlen: Wenn die Leute Bock haben nach den drei Monate zusammen weiterzumachen, können sie das natürlich tun! Wir ermuntern dazu, die Pausen zwischen den Trimester zu nutzen, aber in diesem Zeitraum wird es dann keine Begleitung unsererseits geben.

Und wie war die Resonanz der Gemeinde?

Markus Bräuer: Ich würde sagen, es ist sehr gut gelaufen. Wir haben sehr viel positives Feedback bekommen, haben von geistlichem Wachstum und Glaubenswundern gehört. Viele Gruppen haben auch gesagt, sie machen den Sommer über weiter. Es haben sich insgesamt dreihundert Leute angemeldet – als Leiter oder Teilnehmer. Im alten System mit den fortlaufenden Familygroups hatten wir weniger. Da waren etwa zweihundertvierzig registriert, von denen viele aber gar nicht mehr gekommen sind. Daran haben wir gemerkt, dass es einen Unterschied macht, dass die Leute sich aktiv für eine Gruppe entscheiden, anmelden oder sogar gründen mussten. Zuvor war es so, dass die Leute der Gruppe in ihrer Nähe zugewiesen wurden.

Was macht ihr beim nächsten Trimester anders?

Markus Bräuer: Wir möchten die Coaches noch besser begleiten. Wir haben beim Start relativ geringe Rahmenbedingungen für die Leitenden gesetzt und ihnen Freiheit gelassen, ihr Amt selbst auszugestalten. Hier haben sich die Leitenden gewünscht, genauer zu wissen, was von ihnen erwartet wird oder wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten können. Dazu haben wir im Sommer über unser Material weiter ausgearbeitet.

Was versprecht ihr euch langfristig von der Umstellung?

Renke Bohlen: Dass Freundschaften entstehen und Menschen geistlich zusammenwachsen. Ich kann als Pastor nicht mehr alle in der Kirche kennen, aber ich möchte, dass jeder von jemandem gekannt wird. Mein Wunsch ist, dass sich Gruppen auf lange Sicht zusammentun und sagen: Wir hatten so eine gute Zeit zusammen, wir bleiben zusammen! Und vor allem, dass sie geistliche Erlebnisse haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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Zwölf Wochen kreativ

Marietta Steinhöfel

Was haben Collagen, Rapmusik oder Lettering (kunstvolles Schreiben) mit dem Glauben zu tun? Eine Menge, wenn man sie zur Anbetung Gottes nutzt. In einer Kleingruppe in Bochum stehen unterschiedliche kreative Ausdrucksformen im Mittelpunkt.

 

Ich sitze in einer von vielen Stuhlreihen der Kirche im Pott, als Pastor Renke Bohlen von der Bühne des großzügigen Gebäudes am Bochumer Stadtpark ein neues Hauskreiskonzept ankündigt. Ab sofort seien zwei Wochen Zeit, sich für die Gruppen online anzumelden. Es würde Kleingruppen zu verschiedenen Themen geben, die sogenannten Familygroups, in denen sich Leute mindestens ein Trimester lang, also für zwölf Wochen zusammen tun. Ich möchte Menschen aus der Kirche kennenlernen und geistlich wachsen. Also die perfekte Gelegenheit für mich!

 

Wo Hobby und Glaube eins werden

Zuhause am Rechner schaue ich mir online eine Zusammenstellung der Kreise an. Bislang stehen 18 verschiedene Gruppen zur Auswahl. Von Playstation-Zockern bis Bibelstudium-Hockern ist alles dabei. Auch die Gruppe „Creative“. Sie weckt meine besondere Aufmerksamkeit. Sie verkörpert genau das, was ich schon lange auf dem Herzen habe, wofür mir aber bisher die richtigen Leuten in meiner Umgebung fehlten: Mich mit Menschen treffen, die es lieben, kreativ zu sein, um Kunst und Glauben zu vereinen. Mir gefällt die Vorstellung, Gott in unterschiedlichen Dinge zu begegnen und anzubeten, im Wort, aber auch im Malen, in lyrischen Texten, im Fotografieren. Hier bekomme ich also die Chance, andere Kunst-Begeisterte zu treffen. Nach kurzer Überlegung melde ich mich an und hoffe einen Platz in der Gruppe zu ergattern. Schon kurze Zeit später schreibt mich Gruppenleiterin Teresa an. Und schon bin ich Mitglied der Gruppe, erst virtuell via WhatsApp und schon bald live.

 

Ein Gebetsraum mitten im Szeneviertel

Endlich findet unser erstes wöchentliches Treffen statt. Mit Pinseln, Blöcken, Zeitschriften versammeln wir uns im dritten Stock einer Jugendherberge, wo ein Gebetsraum eingerichtet ist. Hier – unweit des Bochumer Ausgehviertel „Bermuda 3Eck“ – hätte ich eine solchen Ort nun wirklich nicht erwartet. Er passt jedenfalls gut zu den Kernwerten unserer Gruppe, die Leiterin Teresa zu Beginn vorstellt: Gebet, Gemeinschaft und Freiheit.

Überrascht bin ich nicht, als ich auf zehn bastelfreudige Mädels treffe, alle etwa in den Zwanzigern. „Insgesamt haben sich elf Teilnehmer angemeldet“, berichtet Teresa, die die Liste durchgeht, als plötzlich die Tür aufgeht und ein großer Mann in Anzug und Krawatte reinkommt. Ich frage mich kurz, ob er sich in der Tür geirrt hat und er sich vermutlich auch. “Hallo, bin ich hier richtig bei der Creative-Group? Ich bin Marcus, ich komme gerade von der Arbeit und bin deshalb ein bisschen zu spät.”

 

Wir erfahren, dass Marcus Mitte dreißig ist, seit ein paar Jahren Christ, bei der Sparkasse arbeitet und Rapmusik für Jesus macht. „Ich dachte, kreativ sein kann ja auch was mit Musik zu haben”, sagt er und legt eine CD von sich ein, die er mitgebracht hat. Augenblicklich ist Ruhe im Raum und alle hören gespannt zu. Ich bin sehr berührt von den Texten, die wie ein Gebet in Rapform klingen. Kunst und Gebet sind hier eins. Marcus und ich vertiefen uns in ein Gespräch, auch andere tun sich zu zweit zusammen, wieder andere, beginnen zu malen. Schon an diesem ersten Abend zeigt sich, dass Freiheit ein gelebter Wert unserer Gruppe ist – die Freiheit, das zu tun, was in diesem Moment wichtig ist. Ich bin inspiriert von Marcus’ Erzählungen und begeistert von diesem ersten Abend. Die Gruppe vereint so verschieden Persönlichkeiten, ich hätte sie mir niemals aussuchen können. So unterschiedlich die Gebiete auch sind, in denen wir kreativ agieren, es ist offensichtlich, was uns eint:

  • Im Kreativsein beten wir Gott an. Wir verstehen Kunst als Lobpreis, die Inspiration des Heiligen Geistes wirkt in uns.
  • Es geht nicht um Perfektion. Es geht um die Freiheit, zu schaffen. Kunst ist eine Ausdrucksform des persönlichen Gebets.
  • Wir wollen unsere Talente verbessern und voneinander lernen. Kunst kann Menschen zum Glauben einladen, wenn wir Kunstwerke schaffen und sie im öffentlichen Raum ausstellen.

 

Das Leben ist wie ein Aquarell: Nicht planbar

An diesem Abend führt uns Co-Leiterin Jana in ihre Lieblingsdisziplin ein: das Aquarellmalen. Nach gemeinsamer und privater Gebetszeit legt sie – ganz selbstverständlich – ihre hochwertigen Farben, Pinsel und das Aquarellpapier für alle in die Mitte. Sie zeigt uns einige ihrer privaten Bilder und gibt Tipps, wie man für gewöhnlich vorgeht. Es ist schön, in der Kunst die Begabungen des anderen „sehen“ zu können. Ich habe das Gefühl, dadurch zu sehen, wie Gott uns wunderbar gemacht hat. Das, was wir gerne tun oder gut können, sei es Kunst oder etwas anderes, ist so von Gott durchdrungen, wie alles in der Welt, das er geschaffen hat. Umso mehr festigt sich mein Verständnis, dass Hobby und Glaube eins sind.

Für mich ist es, wie so oft in der Kunst – eine Übertragung auf das ganze Leben: Aquarelle lassen sich nur bedingt planen. Man gibt Kontrolle ab, denn man hat nicht immer in der Hand, wie sich die wässrige Farbe auf dem grobfasrigen Papier ausbreitet. Auch ist es kaum möglich, Dinge „rückgängig“ zu machen. Mit vermeintlichen „Fehlern“ muss man plötzlich arbeiten, sie ins Gesamtkunstwerk einarbeiten und am Ende stellen doch gerade sie die Besonderheit im Bild dar. So wie der Wasserklecks in dem Blütenmotiv meiner Sitznachbarin, der die Bewunderung von uns allen auf sich zieht: “Wie hast du das gemacht? Das sieht toll aus!”, frage ich staunend.  “Das war ein Versehen”, lautet ihre Antwort.

 

Scheinbar unvereinbare Dinge

An einem sommerlichen Abend Mitte Mai bin ich an der Reihe und bringe ein Thema mit, bei dem ich erlebt habe, dass Gott mich darin inspiriert und Bilder entstehen, die ich nicht geplant habe. Es ist das Gestalten von Collagen. Dazu habe ich einen Stapel Zeitschriften mitgebracht. Oft hatte ich keine so rechte Idee, welches Thema oder Bild ich aus Magazin-Schnipseln zusammenstellen wollte. So habe ich durch die Hefte geblättert und herausgerissen, was mich intuitiv „angesprochen“ hat. Entstanden sind Collagen mit einer Botschaft – einer Botschaft für mich. Diese handelten von Neuanfängen und dem Mut, im Vertrauen auf Gott, Neues zu wagen, manchmal aber auch vom Wunsch anzukommen und Wurzeln zu schlagen. Diese Visionen visuell vor mir zu sehen, haben mich begleitet und mich daran erinnert, was gerade mein Weg ist  – manchmal für einen bestimmten Lebensabschnitt, für die Zeit einer Entscheidung, die es zu treffen galt, manchmal für ein ganzes Jahr.

Es ist für mich als Leiterin dieses Abends schön, mit der Gruppe ein Thema zu teilen, das zu mir gehört. Nichts Angelesenes, sondern Erlebtes. Wo Menschen von Erfahrungen wie diesen berichten, können wir entdecken, wie unterschiedlich Gott mit jedem und jeder von uns Beziehung lebt. An anderen Abenden haben wir uns zum Beispiel am „Lettering“ ausprobiert, bei dem es darum geht, Schriften kunstvoll zu zeichnen. Dadurch kann man einzelnen Worte oder ganze Sätzen und ihrer Bedeutung besonderes Gewicht verleihen. Bei einem anderen Treffen wurden Plakate für das Kinderprogramm der Gemeindefreizeit bemalt.

 

Wir bleiben bestehen – auch virtuell

Die zwölf Wochen sind wie im Flug vergangen und ein bisschen traurig war es schon, als die Zeit plötzlich vorbei war. Ich kann sagen, dass das Trimester eine bereichernde Erfahrung war, in der ich Menschen kennengelernt habe, denen ich so sicherlich nicht in der Kirche begegnet wäre. Das Wissen, dass man vorerst eine Gemeinschaft auf Zeit ist, hat meiner Meinung nach großes Potenzial, um den anderen viel offener zu begegnen. Man lässt sich darauf ein, weil es ein Experiment ist. Und im Anschluss hat man die Freiheit zu wählen, ob man weitermachen oder neue Wege zu gehen möchte. Ich finde, das ist in einer Zeit wie der unseren, ein großartiges Geschenk. Ausprobieren dürfen – als Teilnehmende oder Leitende. Die WhatsApp-Gruppe unserer Creative-Croup wird jedenfalls nicht gelöscht. Und ich bin gespannt, was die Zukunft bringt.

Ich gehe jetzt jedenfalls mit einem anderen Gefühl in den Gottesdienst. Denn ich weiß, ich treffe auf bekannte Gesichter, Schwestern und Brüder, mit denen ich einen gemeinsamen Weg gegangen bin, Inneres geteilt und viel gebetet habe.

 

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Frischer Wind für die Kirchenmusik

Musik ist wesentlich für die Kirche. Wer die Musik der Kirche ändert, ändert die Kirche. Ein Gespräch mit Martin Bartelworth, Geschäftsführer der neu eröffneten Evangelischen Pop-Akademie in Witten, über neue Liturgien, Schlager und die wachsende Vielfalt von Kirche.

Welcher Pop-Song geht Ihnen gerade durch den Kopf?

„Mach‘s Maul auf!“ von Eddi Hüneke (Wise Guys). Da geht’s darum, dass es auf jeden ankommt und dass man sich einbringen soll, und ich finde, das kann man auch gut für die Musik der Gemeinden sagen. Unsere Vision ist die singende und musizierende Gemeinde.

Wie führte diese Vision zur Entstehung der Pop-Akademie?

Entstanden ist die Pop-Akademie aus der Frage heraus, was wir aus dem Reformationsjubiläum mitnehmen können. Luther ging es auch um die Kommunikation des Evangeliums durch Musik. Musik holt Glaubensimpulse, Glaubensgefühle und Glaubenserfahrungen in die Mitte des Lebens und macht sie abrufbar. Im Bereich der traditionellen Kirchenmusik sind wir da sehr gut. Aber es gab auf dem breiten Feld der Popmusik wenig strategische Qualifizierungsmaßnahmen. Da macht oft jeder selbst sein Geschrammel.

Setzen Sie nur auf zukünftige hauptamtliche Kirchenmusiker?

Wir hatten eine Hochschule erst mal gar nicht im Blick, sondern wir dachten an Erzieherinnen in Kitas. Es soll ein Qualitätsmerkmal einer evangelischen Kita sein, dass dort religions- und musikpädagogisch professionell gearbeitet wird. Im Moment ist es so, dass die Musikalität in Kitas Zufall ist. Und das zweite war die Gemeindepädagogik und Jugendarbeit. Und es geht um Neben- und Ehrenamtliche, denn 90 %  der Kirchenmusik wird gar nicht von Hauptamtlichen gemacht, sondern im Ehren- und Nebenamt.

In welchem Verhältnis steht die Pop-Akademie zu klassischen Musik-Hochschulen?

Ein klassischer Kirchenmusikstudent hat schon jetzt immer einen kleinen Teil Popmusik im Studium. Aber wenn Gemeinden wirklich wollen, dass es auch Schwerpunktstellen im Popbereich gibt, brauchen wir einen eigenen Studiengang. Die Hochschule für Kirchenmusik in Herford hat das ernst genommen, sodass wir jetzt in Westfalen eine Hochschule mit zwei Schwerpunktstudiengängen haben.

Wie wird das konkret?

Alle sind Studenten der Hochschule für Kirchenmusik Herford-Witten und sie besuchen sich auch. Der Semestereröffnungsgottesdienst und z.T. auch Seminare finden gemeinsam statt. Gegenseitiges Verständnis und Wertschätzung sollen dadurch wachsen. Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um eine notwendige Ergänzung.

Man könnte jetzt fragen: Popmusik höre ich im Alltag ständig. Warum soll es unruhige, profane Musik auch in der Kirche geben?

Weil sie Menschen anspricht und weil sie Teil der Verkündigung geworden ist. Das ist Fakt. Unter 400 Stellenausschreibungen der letzten Jahre war die Hälfte explizit mit dem Hinweis versehen, dass man eine Kompetenz im popmusikalischen Bereich mitbringen muss. Und da gab es bislang überhaupt keine geeigneten Kandidaten.

Welche Chancen bietet Musik für den Gemeindeaufbau?

Ich glaube, es ist die meistunterschätzte Chance. Die Creative Kirche haben wir nur mit Musik aufgebaut. Wir haben zielgruppenspezifisch musikalische Angebote entwickelt. Da kommen Menschen, um zu singen, und darüber finden sie zum Glauben.

Welche Rolle spielen liturgische Gesänge in der modernen Kirchenmusik? Können sie durch popmusikalische Ausdrücke ersetzt oder neu interpretiert werden?

Ja, können sie. Der umfassendste Beitrag dazu kommt aus Norwegen. Tore W. Aas, der Leiter des Oslo Gospel Choir, hat eine ganz neue popmusikalisch geprägte Liturgie geschrieben. Also alles: Agnus Dei, Gloria, Kyrie … Es gibt in der norwegischen Staatskirche jetzt zwei Liturgien! Und das funktioniert hervorragend.

Das bedeutet eine starke Veränderung der Gottesdienstkultur. Wie sieht Ihrer Meinung nach die musikalische Zukunft unserer Gottesdienste aus?

Wir müssen einen zeitgemäßen Umgang mit den Bedürfnissen der Menschen nach Sinneserfahrung finden, und dazu kann die Popmusik beitragen. Meine Prognose für die Zukunft ist: Es wird vielfältiger werden.

Also wird es dann sehr unterschiedliche Gottesdienste geben? Einen mit klassischer Musik, einen mit Rock, einen mit Schlagern?

Ja, das wäre noch was, mit Schlagermusik. Das fände ich super spannend, aber ich kann‘s nicht. (schmunzelt) Aber das wäre schon toll, wenn es da was gäbe. Man wechselt die Perspektive: Nicht mein Kirchturm ist das Entscheidende, sondern das Reich Gottes.

Mit welchem Popmusiker würden Sie gerne mal einen Gottesdienst gestalten?

Herbert Grönemeyer fänd‘ ich schon gut. Gerade weil er kein Christ ist. Das ist sehr erfrischend, wenn man nicht nur immer unter sich ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dieses Interview erschien in der Zeitschrift 3E. Jetzt kostenlos testen: www.bundes-verlag.net/3E

Olé du fröhliche

In immer mehr Fußballstadien treffen sich Menschen zum Vor-Weihnachtssingen

Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten. Das Weihnachtssingen auch. Und die Stadien in Deutschland werden immer voller. In der Adventszeit in ein Fußballstadion zu pilgern – um dort mit Tausenden anderen Weihnachtslieder zu singen – ist ein Trend, der Jahr für Jahr wächst.

In Aachen auf dem „Tivoli“ – für Nicht-Fußballer: das ist kein Vergnügungspark sondern so heißt das Stadion – wird es traditionell am 4. Advent weihnachtlich-stimmungsvoll; sofern der 4. Advent nicht (wie in diesem Jahr) mit Heiligabend zusammenfällt. Anno 2017 wird also am 17. Dezember gesungen. Um 19 Uhr läuten die Glocken des Aachener Doms ganz offiziell das Singen ein. Mit einem kleinen Schönheitsfehler: „Die Domklänge kommen vom Band“, verrät Siegmar Müller, Gründer und bis heute einer der Organisatoren des Aachener Weihnachtssingens.

Der Pastor im Ruhestand hatte von dem Weihnachtssingen in Berlin gehört und dachte sich: „Das könnten wir in Aachen doch auch probieren!“ Er sucht sich Mitstreiter in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), der Stadt Aachen, der Interessengemeinschaft der Aachener Fangruppen und dem Kongresszentrum „Eurogress“ (dem Stadion-Vermieter) – und 2013 findet mit 1.500 Mitsängern das erste Weihnachtssingen auf dem Aachener Tivoli statt. Zum „kleinen Jubiläum“, dem 5. Weihnachtssingen in diesem Jahr, werden wie schon 2016 wieder mehr als 21.000 Besucher erwartet.

Fußball-Clubs organisieren für ihre Fans Weihnachtssingen in den Stadien – oder sie sind selbst Gäste. Oder ein freier Organisator lädt ein. Die Modelle sind unterschiedlich. Der Hauptstadt-Club Union Berlin veranstaltet seit 2003 das Event, ist damit das Urgestein der modernen Gesangsbewegung – und mehrere Vereine der Republik zogen nach. Vor zwei Jahren (2015) waren es vier Traditionsvereine, die neben den Berlinern ein Vor-Weihnachtssingen arrangierten: Beim TSV 1860 München im Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße (dort erlebte das Adventssingen seine dritte Auflage). Im – damals noch so genannten – „Rudolf-Harbig-Stadion“ von Dynamo Dresden (wo der Massen-Gesang von dem 128-köpfigen Kreuzchor begleitet wurde). Außerdem im Westen im „Wohnzimmer“ von Alemannia Aachen (ebenfalls zum 3. Mal), und im Rheinenergie-Stadion des 1. FC Köln (wo es klassisch kölsch hieß: „Loss mer Weihnachtsleeder singe“).

In München und Dresden war nach 2015 Schluss mit dem öffentlich-volkstümlichen Singen im Advent. Immerhin tritt in diesem Jahr (am 22. Dezember 2017) der Dresdner Kreuzchor im „DDV Stadion“ auf, allerdings ohne Mitsänger und zu entsprechenden Konzertpreisen. An die Stelle der bayerischen und sächsischen Metropole treten – seit 2016 – die Sängertreffen in Gelsenkirchen auf Schalke und in der MDCC-Arena des 1. FC Magdeburg.

Weihnachtslieder, Fangesänge

Was bringt die Menschen zum Singen ins Stadion? „Gemeinsame Anknüpfungspunkte“ gibt es „in der Musik und im Gesang“, glaubt Siegmar Müller: „In der Kirche wird gesungen – und auf dem Fußballplatz, mit Inbrunst und Begeisterung.“ Beim Weihnachtssingen wird das verbunden: christliche Weihnachtslieder, volkstümliche Weihnachtslieder und Fangesänge – „das bringt Fußball und Kirche zusammen“. Auch Nicht-Alemannia-Fans singen dann die Vereinshymne. „Es packt einen mitzusingen“, findet Müller. In den vergangenen Jahren hat der Trommler von Alemannia den Song begleitet.

Das Weihnachtssingen entfaltet einen Charakter „fast wie ein Gottesdienst“ (Müller). Und ein katholischer Besucher erklärte zuletzt: „Das war meine eigentliche Weihnachtsmesse.“

Bevor es richtig losgeht, stimmen die Chöre die Gäste mit einem einstündigen Vorprogramm ein, dann folgen die 90 Minuten Hauptprogramm. Alle Texte werden in einem Liederbuch ausgeteilt, die Texte auch auf die Leinwände projiziert. Weihnachtslieder – darunter Klassiker wie „Stille Nacht“, „O du fröhliche“, „Vom Himmel hoch“, „White Christmas“ oder „Feliz Navidad“ stehen im Vordergrund. Instrumentalchöre begleiten die Lieder; (Gospel-)Chöre animieren die Leute zum Mitsingen. 2016 hat ein 9-jähriges afrikanisches Mädchen die 1. Strophe von „Stille Nacht“ allein gesungen. 2017 ist erstmals auch ein Kinderchor dabei.

Die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel wird vorgelesen. Sie sorgt ebenso für Andacht und Stille im Stadionrund wie das Gebet, das sich anschließt. Obendrein ist das Aachener Weihnachtssingen ein wichtiges Stadtereignis: Der Oberbürgermeister begrüßt jedes Jahr die Gäste. Robert Moonen, der offizielle Stadionsprecher, moderiert das Programm. Und der Sänger Jupp Ebert, ein „Öcher Original“ (Müller), stimmt traditionell die Alemannia-Gesänge an.

Mit zunehmender Größe steigen Professionalisierung und Kosten. Der Etat liegt inzwischen bei rund 100.000 € (vor allem für Sicherheit und Technik), der zu gleichen Teilen geschultert wird von Spendern, Sponsoren und einer kleinen Reservierungsgebühr der Besucher (ab 5 Euro). „Bei 20.000 Menschen können wir die Besucherströme in die Stadionblöcke und auf die Tribünen nur lenken über die Ausgabe von Tickets“, erklärt Müller.

Gänsehautmomente

Philipp Scheufler (24) studiert Fahrzeug- und Antriebstechnik an der FH Aachen. Dreimal war er schon beim Weihnachtssingen; das erste Mal auf Einladung eines Freunds: „Der meinte, es wäre megacool, das müsste man unbedingt erlebt haben! Und ich dachte: Da gehe ich mal mit.“

Mit zigtausend anderen Menschen auf den Rängen zu singen, ist „etwas komplett anderes“ als zu Weihnachten in der Kirche. Scheufler hat zwischendurch „aufgehört mitzusingen, um einfach nur zu hören“. Das war „teilweise atemberaubend.“

Und jedes Mal gibt es ganz sicher einen „Gänsehautmoment“: Am Eingang werden Kerzen verteilt, jeder Besucher bekommt eine. Das Stadionlicht wird heruntergedimmt und auf allen Rängen leuchten allein die Kerzen. „Dieser Moment hat sich bei mir festgesetzt“, gesteht Scheufler, „es ist tatsächlich eine coole Atmosphäre.“ Und das Weihnachtssingen nicht nur für ihn „jedes Mal wieder ein Erlebnis; auf jeden Fall eine Sache, die sich lohnt“. Für ihn persönlich bedeutet es noch mehr: Hier wird, eine Woche vor dem Fest, „die Weihnachtszeit eingeläutet“.

 

Von Berlin bis Köln: Weihnachtssingen 2017

Berlin: Das älteste und größte Treffen dieser Art. Hier fing alles an, an der Alten Försterei in Berlin. Im Jahr 2003 trafen sich 89 Verrückte „halblegal“ mit Glühwein und Gebäck auf Höhe der Mittellinie im Stadion An der Alten Försterei zum Weihnachtsliedersingen. Von Jahr zu Jahr wuchs die Schar der Sänger. Weihnachten 2010 erfüllten schon die Stimmen von über 10.000 Menschen das „eiserne“ Wohnzimmer.

Der Fanclub Alt-Unioner organisiert das inzwischen traditionelle Weihnachtssingen. 2017 werden über 28.000 Menschen erwartet: Das Weihnachtssingen ist zu einem generations- und vereinsübergreifenden Ereignis geworden. Pfarrer Müller trägt die Weihnachtsgeschichte vor, der Chor des Emmy-Noether-Gymnasiums gibt Tonart und Takt vor und eine kleine Bläsergruppe sorgt für festlich-fröhliche Klänge. Liederbuch und Kerze gibt es gratis – eine kleine Spende für die Nachwuchsarbeit des Vereins ist immer willkommen (23.12.2017, 19 Uhr, Einlass 17 Uhr).

Köln: Die Karnevalsmitsinginitiative „Loss mer singe“ hat einen Ableger in der Weihnachtszeit: Am 23. Dezember klingen bei „Loss mer Weihnachtsleeder singe“ im Rheinenergie-Stadion Adventslieder aus Tausenden von Kehlen (23.12.2017, 19 Uhr; Tickets ab 5 Euro).

Weihnachtssingen auf Schalke: Wo sonst die Fußballprofis der Königsblauen spielen, stehen einen Tag vor Weihnachten wieder bekannte Musiker und Chöre zum Weihnachtssingen auf der Bühne. PUR-Frontsänger Hartmut Engler lässt es sich nicht nehmen, beim 2. Weihnachtssingen auf Schalke gemeinsam mit den Besuchern Weihnachtslieder zu singen (23.12.2017, 19 Uhr, Tickets 14 Euro).

Magdeburg: Das 2. Weihnachtssingen findet dieses Jahr am Tag vor Heiligabend statt. Die Tore werden um 16 Uhr geöffnet, es gibt ein kleines Vorprogramm auf den Vorplatz, mit kleiner Bühne und Weihnachtsmarkt. Aufgrund des Erfolgs beim Start im Vorjahr (7.000 Besucher) rechnen die Veranstalter in diesem Jahr mit 10.000 bis 15.000 Besuchern in die MDCC-Arena. Trotz steigender Besucherzahlen und Kosten für Bühne, Technik, Sicherheitskonzept und eine erhöhte Zahl an Liederheften und Kerzen bleibt der Eintritt zum Weihnachtssingen kostenlos (23.12.2017, 18 Uhr).

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Hygge: Das liegt im Trend

Jörg Podworny

Je hektischer, herausfordernder der Alltag, desto größer das Bedürfnis nach Formen des Rückzugs. Die Seele auch mal baumeln lassen dürfen. Nicht alles machen müssen. Der „Hygge“-Lebensstil ist Ausdruck einer neuen, sozialen und persönlich gestalteten Form von Geborgenheit. Das Junge-Erwachsenen-Online-Magazin „bento“ und der Zukunftsreport 2017 des Zukunftsinstituts von Matthias Horx haben den Trend unter die Lupe genommen. Ein trendiger Überblick:

Lehnen Sie sich zurück! In den nächsten Minuten geht um wohlige Gemütlichkeit! Folgt man dem „World Happiness Report“, ist Skandinavien für viele Menschen ein Sehnsuchtsort. Die glücklichsten Menschen der Welt leben in Norwegen und Dänemark. Woher kommt das gute Lebensgefühl?

Ein Grund ist der Zustand der Gesellschaft in Nordeuropa, sagt der Glücks-Report: Die Gehälter sind in Ordnung, soziale Unterstützung und Absicherung sind stabil, die Lebenserwartung ist hoch. Viele Nordeuropäer fühlen sich frei. Und dann haben die Menschen im Norden Europas auch ihre eigenen Lebens-Arten entwickelt. Beispiel „Ikea“. Der große, „hippe“ Wohn- und Lifestyletrend geht heute von Dänemark aus um die Welt: „Hygge“ – das dänische Wort wird etwa „hügge“ gesprochen und bedeutet so viel wie „gemütlich“, „angenehm“. Damit verbunden ist eine Einstellung, der es ganz viel darum geht, ein heimeliges Umfeld zu schaffen und Kleinigkeiten wertschätzen zu lernen.

Das lässt sich auch gut verkaufen. Bücher, Bildbände, die Sehnsucht wecken, dänisches Gebäck, skandinavische Möbel – was „hygge“ ist und wohltuend wirkt, geht gut. Wer wollte das nicht auch mal, zumindest vorübergehend: Selbst backen, gemütlich auf dem Sofa Filme schauen, Abende mit Freunden planen und als gute Gastgeber willkommen heißen, einen Pullover stricken, selber malen, vorzugsweise mit Pastellfarben  … ?

Dazu gelten bestimmte Regeln: Bitte kein vollgestopftes, wild gestapeltes Bücherregal, sondern eins, in dem die Bücher nach Größe sortiert sind, vielleicht auch noch nach Farbe! Und auch keine Wand mit vielen ungleichen Bilderrahmen – stattdessen nur ein Bild, das aber mit beruhigendem Motiv.

Wird über Politik diskutiert, wenn es laut und anstrengend wird, sich Wut äußert, auch wenn es kalte frosttreibende Tage gibt oder Stress: Dann gilt es all das als „unhyggelig“ möglichst zu vermeiden.

Sicher, das gab es so ähnlich früher schon. Wer hätte nicht aus zurückliegenden Jahrhunderten das Bild der „guten Stube“ vor Augen, in die man sich ungestört zurückzieht, untermalt von ein wenig Hausmusik? Mit „Hygge“ hat das Ganze nun einen Namen bekommen, eine „Dachmarke“, wollte man es marketingtechnisch ausdrücken. Das Glück ist eine bewusste Entscheidung.

Rückzug von einer komplizierten Außenwelt

Klar darf ich als „Hygge“-Freund auch klagen, wenn es berechtigten Grund zur Klage gibt. Wenn der Jahresvertrag nicht verlängert wird zum Beispiel, wenn sich eine private Baustelle auftut, wenn im politischen Kosmos lärmende rechte Parteien nicht mehr nur am Rand der Gesellschaft stehen, wenn Staatsführer sich wie gefährlich tobende kleine Kinder gebärden, dann ist ein Zufluchtsort im Privaten – abseits dieser feindseligen Außenwelt – nur allzu verlockend. Und dieser Ort, so sagt es der „Hygge“-Stil, liegt ganz nah: das Zuhause, die schutzgebenden eigenen vier Wände. Und Trost spenden dann nicht Discounter-Schokolade und Chips, sondern eigene Zimtkekse mit gesundem Vollkornmehl; auch kein Krimi aus der Wühlkiste, sondern ein edler Bildband über Wälder.

Was früher „gute Stube“ hieß, ist heute das heimische Wohnzimmer mit trendigem norwegischem Sofa; die Hausmusik wird ersetzt durch das Netflix-Abo, manchmal auch noch handgemacht beim intimen Wohnzimmer-Konzert. Und mit den Freunden, die auf den Social-Media-Kanälen, bei Instagram oder mitunter auch eigenen Blogs versammelt sind, kann man die #hygge-Momente teilen.

Das hat sicher auch kritische Aspekte. Für ein politisches Engagement bleibt den „Hyggeligen“ oft kaum mehr Zeit: Sie verwenden ihre Energie darauf, das Glück in bewusst einfachen Aktivitäten zu finden. Wobei das Politikengagement oft auch bei denen unterentwickelt ist, die das große Rad drehen.

„Hygge“ reagiert auf die Sehnsucht nach Einfachheit, nach Geborgenheit in einer komplizierten Welt mit ihrem hochgradig verdichteten Alltag, den hunderterlei Anforderungen. Für jedermann und jedefrau ist das nicht machbar. Man muss auch die Möglichkeit haben und es sich leisten können, wenig zu haben.

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Was uns bewegt

von Ansgar Hörsting

 

Seit einigen Wochen spreche ich in Gemeinden immer wieder einmal über die Leitsätze, die unser Leben bestimmen. Oft unbewusst, aber doch sehr wirksam. Oder Leitsätze, die wir über unsere Gemeinden stellen. Sie wirken wie Überschriften über einem Zeitungsartikel. Sie bestimmen darüber, was wir als Hauptnachricht mitnehmen werden, egal, was im Artikel selbst steht.

Irgendwo haben wir sie gelernt. Irgendwann haben sie sich uns tief eingeprägt, die Leitsätze unseres Lebens. So wie diese: „Aus dir wird nie etwas.“ − „Was sollen die Leute denken?“ − „Eigentlich solltest du gar nicht geboren werden.“ Solche Leitsätze können eine Macht ausüben und uns sogar zerstören. Es gibt auch diese hier: „Egal was passiert: Wir stehen immer zu dir.“ oder „Du darfst alles, du darfst dich nur nicht erwischen lassen.“

Bei mir kamen später andere Sätze hinzu: „Weil es dir gut geht, geht es anderen Menschen auf der Welt schlecht.“ − „Denke an die hungernden Kinder in Afrika und iss deinen Teller leer“ − „Pass immer auf deine Sachen auf!“

 

Fromme Leitsätze

Andere erzählten mir von frommen Leitsätzen: „Pass auf, kleines Auge, was du siehst!“ − „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Viele haben das als Druck empfunden und Gott als Aufpasser erlebt. Nicht alle jedoch! Denn solche Sätze wirken immer im Gesamtbild der Herkunftsfamilie und der Verlässlichkeit und Liebe, die dort herrschen.

Es gibt hilfreiche und lähmende Leitsätze. Und oft ist einem gar nicht bewusst, welche Sätze wirklich leiten. Es kann sein, dass man zwar ein Lebensmotto haben möchte, aber tief drinnen wird man von einem ganz anderen regiert.

Ich bekomme viel Resonanz auf meine Predigten, wenn ich auf die Leitsätze zu sprechen komme. Wir verlieren viel Lebenskraft durch schlechte Leitsätze. Ich bin überzeugt: Satan kann uns durch seine Lügen verführen. Er liebt es, Menschen mit lügenhaften Leitsätzen zu quälen.

 

Das sagt Gott

Deswegen ist es eine entscheidende Frage, was Gott eigentlich über unser Leben sagt. Ich bin überzeugt, dass die Antwort darauf immer zwei Aspekte hat. Der eine ist negativ. Gott sieht unser Leben, wie es ohne ihn aussieht: verloren, abgeschnitten vom Leben, in Schuld verwickelt, in Lügen verstrickt. Beladen mit Sorgen, mit Bitterkeit, mit eigener Schuld oder auch der Schuld anderer. „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“, diagnostiziert die Bibel (Röm 6,23). Es nützt nichts, diese Wahrheit zu leugnen, denn wer sie leugnet, kann ihr nicht begegnen.

Aber als Lebensmotto, als Leitsatz, taugt dieser Aspekt nicht. Dafür müssen wir uns den zweiten Aspekt ansehen, die Wahrheit, die Gott in Jesus über uns ausspricht. Zum Beispiel diese hier: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist.“ (Röm 8,38f) oder: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ (Jes 43,1). In Jesus hat Gott uns alles geschenkt (Röm 8,32). Er macht unsere Leben reich. Nicht durch unser Tun, sondern durch Gott allein können wir leben. „Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7). Das sind Leitbilder, die uns lebenstauglich machen.

 

Bewegt von Gottes Liebe

Dieses Prinzip betrifft auch Gemeinden. Wir sehen sie häufig mit negativen Vorzeichen: Wir sehen die Fehler, die problematischen Leute, die Streitereien. Und keine Frage, das alles gibt es ja auch. Aber wenn uns das leitet, dann werden wir irgendwann der Gemeinde Jesu den Rücken zuwenden.

Gemeinden geben sich häufig Leitbilder. Drucken diese vierfarbig in unsere Veröffentlichungen oder schreiben es auf Leinwände. Aber es kommt darauf an, dass diese Leitbilder in unsere Herzen geschrieben werden. Dazu braucht es die ständige Erinnerung und positive Erfahrungen. Dann wird ein Leitbild zu dem, was es sein soll: Es leitet unser Denken, Fühlen und Handeln. Es ist die Überschrift über unser Tun und Lassen. In diesem Sinne: „Bewegt von Gottes Liebe bauen wir lebendige Gemeinden.“

 

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Mit Gott auf der Rennstrecke

von Rüdiger Jope

Was kommt dabei heraus, wenn ein visionäres Team 100 Jahre Motorsport, ein abgehalftertes Hotel, Flüchtlinge und ehemalige Straffällige zusammenbringt? Eine Kirchengemeinde!

Wolkenloser Himmel. Langgezogene Kurven. Schattenspendende Bäume. Verkleidete Leitplanken. Dröhnend zieht eine Maschine an meiner heruntergelassenen Seitenscheibe vorbei. Sie signalisiert meiner Nase und meinen Ohren: Du bist auf der richtigen Spur Richtung Glemseck. Bis in die 60er-Jahre hinein trugen auf der legendären Solitude-Rennstrecke in der Nähe von Stuttgart zwei- und vierrädrige Legenden des Motorsports ihre PS-starken Fights um Lorbeerkränze und glänzende Pokale aus. Vor dem Hotel Glemseck parke ich. Auf mich wartet Tobias Merckle, der Gründer, Taktgeber und Vorstand von „Seehaus e.V.“. Mit leuchtenden Augen führt er mich durch die in die Jahre gekommenen Räume, die eine vergilbte, rauchgeschwängerte, aber reiche Motorsportvergangenheit atmen. „Eigentlich träumte ich schon 13 Jahre davon, hier an diesem Ort Motorradfahrer, Oldtimerfahrer und Motorsportbegeisterte in ihrem Umfeld mit dem Glauben in Berührung zu bringen“, so der Visionär.

Traditionen pflegen, Neues entwickeln

Als er sich Anfang 2016 auf die Suche nach weiteren Räumen für den „Jugendstrafvollzug in freien Formen“ macht, wird ihm dieses abgelebte Kleinod angeboten. Merckle ist in seinem Element: „Als ich dann in diesen Räumen stand, wusste ich: Mitarbeiterwohnungen sind hier fehl am Platz. Die über 100 Jahre alte Geschichte gehört unter neuen Vorzeichen fortgeschrieben.“ Auf einem Laptop bekomme ich die Zukunft präsentiert: Ein hippes Motorsporthotel. Detailverliebte Innenausstattung mit Fotos, Originalfahrzeugen und Oldtimern. Zudem sollen im Glemseck Flüchtlinge in der Gastronomie ausgebildet werden, um ihnen so einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Motorsportbegeisterung mit Mehrwert zum Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Helfen und Glauben.

Gerade Letzteres ist Merckles Leidenschaft. Ehemaligen Straffälligen eine Gemeinde als Zuhause anzubieten. Alle wohlgemeinten Versuche scheiterten. Die meisten Jugendlichen fanden nach der Zeit im Seehaus keine Beheimatung in einer normalen Gemeinde. „Die Lebenswelten, die Erfahrung, die Gesprächsthemen, die Interessen sind einfach ganz andere“, bilanziert der Gründer etwas ernüchtert. Doch Merckle hat das Unternehmer-Gen. Wo ein Problem ist, sucht er nach einer Lösung. Mit einer kleinen Gruppe von Mitstreitern setzt er sich mit Verantwortungsträgern aus der evangelischen Landeskirche Württemberg zusammen. Sie fragen: „Könnte Glemseck nicht eine ‚personale Gemeinde‘ werden für ein Milieu, welches die klassische Kirchengemeinde nicht erreicht?“ Sie kann. Seit Anfang Mai 2016 ist die „Gemeinde am Glemseck“ Teil der Gesamtkirchengemeinde Leonberg und der evangelischen Landeskirche Württemberg.

Beziehung statt Programm

Glemseck will dort mit dem Glauben hin, wo die Leute sind. Die Motorradfahrer und Motorsportbegeisterten sind da ein zusätzliches Pfund. Merckle gibt eine Begebenheit aus einem Motorradgottesdienst zum Besten. Auf dem WC ist die Pfarrerin dabei, sich ihren Talar überzustreifen. Nebendran schlüpfte eine Motorradfahrerin in ein Hasenkostüm. Der Pastorin rutschte ein schmunzelndes „sieht aber komisch aus“ raus. Ihr Gegenüber konterte lachend: „Ebenso!“

Knapp achtzig „komische“ Leute treffen sich inzwischen in dieser ökumenischen Mitmachgemeinde. Sie wird zum Zuhause für Suchende, Zweifler, Interessierte, Neugierige und Flüchtende. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Thema Gemeinschaft. Lebensberichtsabende und gemeinsames Essen sind ein zentrales Element. „Menschen kommen vor allem wegen der Beziehungen, die Gottesdienste nehmen sie so mit“, ergänzt Merckle. Auf dem Rückweg zum Auto bückt sich der Visionär nach dem achtlos weggeworfenen Müll. Ich erlebe: Hier ist sich einer nicht zu schade, kleine und große Müllberge des Lebens beiseite zu räumen, damit Menschen sich mit Gott auf die Rennstrecke ihres Lebens begeben.

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Nick Vujicic

von Jörg Podworny

Der Hoffnungs-Botschafter

Nick Vujicic ist ein Phänomen: Er hat keine Arme und Beine. Aber als witziger und nachdenklicher Motivationscoach begeistert er Millionen Zuhörer in aller Welt. Protokoll eines Deutschland-Besuchs:

Auftritt. Nick. Oben auf der Leinwand flimmern Szenen aus seinem Leben, Besuche in Afrika, in Asien. Auftritte vor jungen und älteren Zuhörern. Lachende Menschen, nachdenkliches Publikum. Umarmungen. Währenddessen teilt sich unten der Vorhang und ein kantiger roter Rollstuhl mit kleinen Rollen wird auf die Bühne geschoben. Ein Mitarbeiter packt sich mit beiden Armen den Mann im Rollstuhl – es sieht ein wenig so aus, als ob ein voller Seesack gehoben wird – und setzt ihn vorn auf der leicht erhöhten Extra-Bühne ab.

Gespannt richten sich über 5.000 Augenpaare in der Halle auf den nur rund 80 Zentimeter kleinen Mann. Wegen ihm sind sie heute hier in die Arena nach Oberhausen gekommen, wollen hören, was er aus seinem Leben erzählt: Nick Vujicic. Was erwarten seine Zuhörer? Nun, sagt Nick, die Fragen sind überall auf der Welt gleich: „Warum bin ich eigentlich hier? Wo finde ich Hoffnung, gerade dann, wenn’s mir dreckig geht? Wie finde ich Frieden für meine Seele? – Eine echte Hoffnung ist alles.“ Und die Zuhörer bewundern seinen Mut, seine Fröhlichkeit, der man sich nur schwer entziehen kann, und seine Lebenskraft. Er inspiriert, motiviert, bringt zum Lachen und „zündet einen Funken“, wie viele bekennen.

Nick Vujicic (33) ist Australier serbischer Abstammung und lebt heute in Los Angeles. Er wurde wegen eines seltenen Gendefekts ohne Arme und Beine geboren, hat nur einen kleinen linken Fuß mit zwei Zehen am Rumpf, mit dem er erstaunlich beweglich ist. Als 10-Jähriger denkt er darüber nach, sich in der Badewanne zu ertränken, überlegt es sich aber im letzten Moment anders. Danach stürzt er sich ins Leben, lernt mit E-Rollstuhl und Joystick zu fahren oder zu telefonieren (ohne Arme!), düst auf dem Skateboard über die Pisten und surft auf dem Brett vor der Küste von Hawaii. Heute reist er als Motivationstrainer, Sprecher und Buchautor um die Welt. Er hat in seinen Vorträgen vor mehr als drei Millionen Menschen gesprochen, dabei nach eigener Zählung fünf Millionen (Flug-) Kilometer in etwa 2.500 Flugzeugen zurückgelegt. In Deutschland hat Nick im Sommer nur diesen einen Auftritt, schon am nächsten Tag jettet er weiter, ans andere Ende des Globus, nach Malaysia, Singapur und auf die Philippinen. Er wird von Regierungen und Gemeinden eingeladen, referiert in Schulen und großen Veranstaltungshallen wie hier.

 

„Low Two“ statt „High Five“

Eine zentrale Botschaft Nicks wird schnell klar: „Du bist wunderbar – so, wie du bist!“ Wenn einer wie er das sagt, nimmt man ihm das sofort ab. Und es geht weiter: Dankbarkeit, der nächste bedeutsame Punkt; dankbar zu sein für das, was man hat, statt zu meckern über das, was man nicht hat. „Ein gebrochenes Herz kann schlimmer sein als keine Arme und Beine zu haben“, sagt er. Nick redet häufig in solchen Gegensatz-Beispielen, um seine Gedanken zu verdeutlichen.

Er tut das höchst unterhaltsam. Es macht ihm sichtlich Spaß zu erzählen: Einmal hat er in Flugkapitäns-Uniform die verdutzten Fluggäste beim Einsteigen begrüßt. Ein anderes Mal, im Straßenverkehr, ist der Fahrerin im Auto neben ihm die Kinnlade herunter geklappt, als er sich auf seinem Autositz einmal um 360 Grad gedreht hat. Nick Vujucic ist ein guter Entertainer, der knochentrocken seine Pointen abfeuert: „Manchmal nervt mich die viele Aufmerksamkeit auch. Dann tarne ich mich – setze eine Sonnenbrille und einen Hut auf …“

Seinen Zuhörern nimmt er schnell die Befangenheit, weil er sich ständig selbstironisch auf die Schippe nimmt. Während er noch berichtet, dass sein Vater nach der Geburt fast in Ohnmacht gefallen wäre, erzählt er, wie er mit seinen Handicaps umgeht: Dann spricht er von Daniel Martinez, einem Jungen, der ähnlich behindert ist wie er, und wie er sich mit ihm „abklatscht“. Weil das mit Händen nicht geht, „High Five“ also ausscheidet, muss eben das „Low Two“ der beiden Stummel-Zehen herhalten.

Der Witz mit Herz ist aber nicht alles. Nick Vujicic präsentiert sich ebenso als nachdenklicher, ruhiger Typ, der über Gott und die Welt nachgedacht hat. Ein wichtiges Thema für ihn sind junge Menschen, Teenager. Er hat in den USA in Schulen geforscht und herausgefunden, dass 40 von 1.000 Schülern Selbstmordgedanken haben. Weil sie gemobbt werden. Darum mahnt er: Überlegt euch gut, was ihr zu anderen sagt! Darum spricht er oft über Selbstannahme und sagt: „Du musst nicht ‚perfekt‘ sein!“

 

Glaube. Liebe. Und Hoffnung.

Dabei lautet seine Botschaft nicht oberflächlich: Denk positiv! Nimm‘s leicht! Das wird schon!

Es steckt mehr dahinter. Nick Vujicic ist Christ und er sagt das auch. Der alte christliche Dreiklang klingt hörbar bei ihm durch.

Der Glaube ist seine Grundlage. „Nachdem ich entschieden hatte, mich nicht umzubringen, dachte ich: Wenn Gott einen Plan für mich hat, dann will ich wissen, was für einen!“ Nick hat für sich eine Antwort gefunden und sagt sie auch anderen: „Wenn ich selbst keine Wunder erlebe, kann ich immer noch ein Wunder für jemand anderes sein!“ Sagt es und wippt auf seinem kleinen Füßchen; er selbst ist ein lebendes Beispiel dafür.

Die Liebe zählt für ihn: Die Liebe zu seiner Frau Kanae, mit der er seit 2012 verheiratet ist: „Ich kann zwar nicht ihre Hand halten – aber ihr Herz.“ Die Liebe zu seinen beiden Kindern, mit denen er auf dem Trampolin tollt. Oder auch die Liebe für Menschen, die eigentlich keine Liebe verdient haben, sagt er, und erzählt die bewegende Geschichte einer Bordellmutter in Indien, die nach langer Behinderung eine wundersame Heilung erlebt hat.

Und nicht zuletzt die Hoffnung. Nicks wichtigster Gedanke ist der: „Wenn jemand wie ich es schaffen kann, dann schaffst du es auch! Und du musst dabei nicht ‚perfekt‘ sein!“ Gleich witzelt er wieder: „Sehe ich etwa so aus, als ob mir etwas fehlt?“, ruft er in die Zuschauermenge – und antwortet: „No!“ Und das hat seinen tieferen Sinn: „Ich bin nicht ‚der Mann ohne Arme und Beine‘, sondern ein göttliches Königskind!“ Humorvoll schiebt er nach – indem er auf die Gemeinschaft von Christen in aller Welt verweist: „Seht her, ich bin euer Halbbruder!“

„Leben ohne Limits“ heißt Nicks Motto. Er hat viele persönliche Grenzen überwunden, war Surfen, Skateboarden, Golfen, Tauchen, ist mit dem Fallschirm abgesprungen … Hat er noch eine „Löffelliste“ der Dinge, die er unbedingt noch machen möchte? Nein, meint er, er will vor allem für seine Familie da sein.

Wenn er von Reisen heimkommt, erzählt er, hat er „1.189 SMS“ auf dem Smartphone, die er alle gern beantworten würde. Aber seine Frau legt sein Handy dann ganz oben auf ein Regal, wo er auf keinen Fall rankommt.

Infos auf Nicks Webseite: www.nickvujicic.com

 

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