Mehr im Hier und Jetzt

Von Marietta Steinhöfel

Von der Kunst des Beobachtens

Unsere Gedanken sind überall und nirgendwo – bei dem, was gestern war, und morgen sein könnte. Wann sind wir einfach mal nur da? In diesem Moment? Warum es sich lohnt, wahrzunehmen, was gerade ist.

Beim Blick in die Zeitschriftenläden oder manche Arztpraxis, fällt auf: Wir werden ermuntert, achtsamer zu sein. Was hat es damit auf sich? Wieder ein neumodischer Gesundheitstrend? Als Synonyme für Achtsamkeit werden im Duden Aufmerksamkeit, Augenmerk, Interesse, Konzentration, Sammlung und Teilnahme genannt.

Interessant. Lassen wir uns doch auf ein Gedankenexperiment ein. Durchleuchten wir einmal unseren Alltag und fragen uns: Wie oft am Tag erwischen wir uns dabei, aufmerksam, konzentriert und wachsam, zu sein? Wann nehmen wir teil an dem, was wir gerade tun? Es ist schon halb vier und noch immer ärgert sich Harald über den unfreundlichen Busfahrer am Morgen. Die schweren Einkaufstaschen einige Zentimeter über dem Boden schleifend, mit gesenktem Kopf an den Geschäften vorbeitrottend, fragt sich Ilse, warum eigentlich nicht sie die Wohnung in der Stadtmitte bekommen hat. Hanna sitzt am Küchentisch über ihrem Mittagessen. Wie es wohl werden wird, wenn ihr Mann nächsten Monat aus dem Beruf scheidet? Die drei sind gedanklich und emotional abwesend. Beschäftigt mit dem was war, und noch kommt – eventuell. Der Kontakt zur Gegenwart reißt ab.

Achtsamkeit kann trainiert werden

Es ist nicht verkehrt, über Vergangenes nachzudenken und daraus Handlungslinien für die Zukunft abzuleiten. Das Problem liegt im Grübeln und Sorgen. „Wer ständig beschäftigt ist, läuft Gefahr die Gegenwart zu verpassen“, sagt Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut an der Klinik Hohe Mark in Oberursel.

Im Hier und Jetzt zu sein, den Moment wahrzunehmen und wertzuschätzen: Das bedeutet, achtsam zu sein.Vielen älteren Menschen gelingt das sehr gut. Vorausgesetzt, sie haben es eingeübt, meint der Psychiater: „Wer sein Leben lang nicht gelernt hat achtsam zu sein, wird es im Alter auch nicht können.“ Um achtsamer zu werden, lassen sich Phasen in den Tagesablauf einbauen, in denen man das bewusste Wahrnehmen einübt. Unterwegs in die Stadt lohnt sich ein Blick an den Wegesrand, wo eine Löwenzahnpflanze aufgeblüht ist. Bei näherem Hinsehen fällt auf, wie saftig das Grün ist, und wie schön die Blüten aussehen. In Momenten wie diesen, ist man achtsam. Die Sinne zu schärfen ist eine Komponente von Achtsamkeit. Die zweite, so Grabe, sei die Schöpfung wahrzunehmen. Die Welt um uns herum, wie uns selbst. Im Büro könne das sein, einmal zu prüfen, ob man bequem sitzt und die Haltung gegebenenfalls zu korrigieren.

Achtsamkeit in der Bibel

Auch wenn die Bibel nicht explizit von „Achtsamkeit“ spricht, zeigt sie doch auf, dass es wichtig ist, geistig anwesend zu sein:

  • Achtsamkeit als Aufmerksamkeit. Der Samariter, der nicht einfach am geschändeten Mann am Wegesrand vorbei geht – der sieht (Lukas 10,30-37).
  • Achtsamkeit als Offenheit. Jesus, der dazu aufruft, wie die Kinder zu sein: empfänglich, offen, interessiert, neugierig (Matthäus 18,3).
  • Achtsamkeit als Wachsamkeit. „Haltet euch bereit und seid wach“, heißt es im Lukas-Evangelium. Im Kontext (Lukas 12, 35-40) geht es um viel: das Wiederkommen des Herrn, das Erettetwerden.
  • Achtsamkeit als Vorsicht. Im Gleichnis von den zehn Brautjungfern (Matthäus 25,1-13) werden jene Frauen belohnt, die klugerweise zusätzliches Öl für ihre Öllampen mitgenommen haben. Als die Nacht hereinbricht, und der Bräutigam endlich kommt, sind die anderen Brautjungfern, die neues Öl kaufen mussten, nicht anwesend.

„Sorgt euch nicht“, sagt Jesus im Matthäus-Evangelium. Und genau darum geht es beim Achtsamsein. Nicht im Groll der Vergangenheit bleiben, oder sich um die Zukunft sorgen. Sondern im Hier und Jetzt zu leben.

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