„Man muss improvisieren können“ Zwischen Hochaltar und Hochdruckreiniger.

Hans-Jürgen Pulz-Kersebaum ist Küster. Sein Arbeitsplatz ist die romanische Basilika St. Reinoldi in Dortmund-mitte.

Als Gott den Küster schuf, musste er Überstunden machen, denn das Anforderungsprofil war umfangreich. So heißt es in einem unter Küstern gerne erzählten Witz. Nervenstark und belastbar sollte er sein, drei Augenpaare sowie sechs Paar Hände haben und in allen Handwerksberufen zu Hause sein. „So ungefähr“ bestätigt Hans-Jürgen Pulz-Kersebaum schmunzelnd. Der 54-Jährige spricht aus Erfahrung, denn er arbeitet Vollzeit als Küster in der Stadtkirche St. Reinoldi in Dortmund-Mitte.

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Stadtkirche St. Reinoldi in Dort- mund-Mitte

Manche denken immer noch, die Tätigkeit eines Küsters beschränke sich auf das Laubfegen vor der Kirche und die Begrüßung der Gottesdienstbesucher an der Kirchentür, erklärt Pulz-Kersebaum. „Dabei ist mein Beruf sehr vielfältig, was die einzelnen Aufgaben betrifft. Und genau das schätze ich so da ran. Lassen Sie uns in die Kirche gehen, ich zeig‘s Ihnen.“ So wie jetzt beginnt Pulz-Kersebaums Dienst jeden Morgen, nämlich mit dem Aufschließen der Kirche. Die Türen von St. Reinoldi sind an Wochentagen von 10 bis 18 Uhr geöffnet. An manchen Tagen kommen viele hundert Besucher, um das Innere der romanischen Basilika und seine wertvollen Kunstschätze aus dem 15. Jahrhundert zu betrachten – oder einfach nur abzuschalten. Dafür muss die Kirche vorbereitet werden, und die Koordination liegt in den Händen des Küsters: Kerzen anzünden, Teelichte bereitstellen, Lichtanlage überprüfen, Heizung anschalten, kleinere Reparaturen durchführen. Manchmal muss an der einen oder anderen Stelle noch gefegt werden. „Dafür haben wir zwar Reinigungskräfte, aber wenn es schnell gehen muss, erledige ich das selbst.“ In der Zwischenzeit wartet auch schon das Team in der angegliederten Wiedereintrittsstelle des Kirchenkreises auf seinen Kaffee. Ebenso das Seelsorgeteam, das viermal pro Woche in der Kirche Dienst tut.

Hight-Tech hinter der Holzklappe
Auch das Gelände rund um die Kirche kontrolliert Pulz-Kersebaum regelmäßig. Manchmal benötige er den Hochdruckreiniger, um den Dreck zu entfernen, sagt er. Dann stehen Einkäufe für die Gemeinde an, einmal pro Woche die ausführliche Dienstbesprechung. Dabei kommen auch die Gottesdienste zur Sprache, denn in die ist der Küster in verschiedenen Funktionen eingebunden. Neben der Begrüßung der Gottesdienstbesucher („Natürlich!“) ist er für den „guten Ton“ verantwortlich. Pulz-Kersebaum öffnet eine Holzklappe am hinteren Ende des Kirchenschiffes. Zum Vorschein kommt eine computergesteu erte Soundanlage. „Hier steuere ich die Mikrofone“, erklärt er. „Und auch die Glocken, zum Beispiel beim Vaterunser.“ Der Küster als Techniker. Darüber hinaus assistiert er beim Austeilen des Abendmahls, begleitet Taufen, Hochzeiten und auch Trauergottesdienste. Außerdem hilft er bei der Vorbereitung von Orgelvespern, Abendgebeten oder auch den Andachten („VierlSternStunden“) während der Adventszeit. Pulz-Kersebaum schließt die Tür zur Sakristei auf, bietet Kaffee an. Hier noch zehn Stühle stellen, dort einen Besucher begrüßen – hat ein Küster eigentlich irgendwann Feierabend? „Ja“, sagt er, fügt jedoch schmunzelnd hinzu: „Jein.“ Im Prinzip ist alles klar geregelt: „39 Stunden, verteilt auf sechs Tage. Am Montag habe ich frei.“ Meistens ist tatsächlich zwischen 18 und 19 Uhr Schluss. Meistens. „Wir haben hier in der Gemeinde zum Beispiel Mitarbeiter, die auf Honorarbasis Konzerte begleiten“, erklärt der Küster. „Die machen das klasse, haben aber natürlich nicht denselben Einblick wie ich ihn tagtäglich habe. Denen sage ich immer, sie sollen sich bei Problemen melden. Ich wohne nur zwei Haltestellen entfernt, bin in fünf Minuten hier. So halte ich das.“ Und wenn dann mal tatsächlich ein Scheinwerfer nicht funktioniert, dann fährt der 54-Jährige eben lieber schnell zur Kirche anstatt alles am Telefon zu erklären. Das komme selten vor, aber ab und zu schon. Wenn er Urlaub hat, vertreten ihn ebenfalls Honorarkräfte. „Das ist ein gutes Team“, betont der Küster. „Und falls es dann doch mal brenzlig wird, dafür habe ich mein Handy dabei.“ Manchmal verfluche er das Mobiltelefon aber auch: „Einige Handwerksfirmen rufen mich scheinbar be vorzugt montags an, also an meinem freien Tag.“

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Hans-Jürgen Pulz-Kersebaum

Touristen, Künstler, Amtsträger
Warum ist Pulz-Kersebaum Küster geworden? Er lehnt sich zurück. „Ich habe zunächst über 20 Jahre als Handwerker im Personennahverkehr gearbeitet. Rolltreppen und Aufzüge. Mit 40 habe ich mir dann gedacht: Bei Wind und Wetter immer draußen, das geht auf irgendwann schon auf die Knochen. An die Küsterei bin ich schließlich durch meine Frau gekommen. Sie leitet eine Kindertagesstätte hier in Dortmund, dort habe ich viel ehrenamtlich mitgeholfen. So entstand die Idee, noch einmal etwas völlig anderes anzufangen. Irgendwann wurde dann eine Küsterstelle im Dortmunder Westen frei, in Marten.“ Dort arbeitete Hans-Jürgen Pulz-Kersebaum zwölf Jahre, seit 2013 ist er in St. Reinoldi angestellt. Welche Voraussetzungen sollte man neben den genannten handwerklichen Fähigkeiten (eine entsprechende Ausbildung ist Pflicht) für die Küstertätigkeit mitbringen? Der 54-Jährige überlegt. „Man muss Improvisieren können. Sehr wichtig ist, dass man gut mit Menschen umgehen kann.“ In seinem Dienst kommt Pulz-Kersebaum mit verschiedensten Besuchern in Kontakt: Gottesdienstbesucher, Touristen, Künstler, kirchliche Amtsträger aber auch Politiker bis hin zum Bürgermeister. „Und alle wollen und sollen freundlich behandelt werden“, erklärt er. „Und zwar auch dann, wenn es gerade richtig stressig ist.“ Wie zum Beispiel Ostersonntag. Oder vor allem während der Weihnachtsfeiertage. „Heiligabend, das bedeutet vier Gottesdienste, 1.600 Gäste. Ein Gottesdienst ist vorbei, die Kirche gerade aufgeräumt und das Geld im Tresor, da stehen schon die nächsten Besucher vor der Tür. Da steht man durchgehend unter Strom. Wenn dann noch jemand umkippt, wie es 2014 tatsächlich geschehen ist … Zum Glück waren wir in diesem Augenblick zu zweit, sodass ich mich um die Einweisung der Sanitäter kümmern konnte“, erinnert sich Pulz-Kersebaum. Fingerspitzengefühl verlangt auch der Umgang mit den Bedürftigen und Obdachlosen, die regelmäßig in die Kirche kommen. „Solange sie sich ruhig verhalten, dürfen sie sich hier aufhalten und tagsüber auch auf den Bänken schlafen.“ Es klopft. Eine Besucherin hat eine Frage. Pulz-Kersebaum entschuldigt sich kurz, hört der Frau aufmerksam zu und schickt sie dann zur Kircheneintrittsstelle. Der Küster als Ansprechpartner. Er setzt sich wieder. Was sind die schönsten Erlebnisse im Dienst? „Letztes Jahr hat eine Pfadfindergruppe hier bei der Durchführung einer Veranstaltung geholfen, die haben gesagt: ‚2019 beim Kirchentag, da melden wir uns als Helfer für St. Reinoldi an, so eine tolle Atmosphäre gibt es nicht überall.‘ An solche Erlebnisse und Begegnungen erinnere ich mich gerne. Wenn die Besucher und mein Chef zufrieden waren.“ Und negative? Pulz-Kersebaum schüttelt den Kopf. Gar nichts? „Kleinigkeiten“, sagt er. „Nur Kleinigkeiten. Wenn zum Beispiel die Besucher nach den Gottesdiensten öfter mal die Gesangbücher oder Stuhlkissen wegräumen würden … Wenn man die nicht selbst einsammeln müsste, das wäre schon eine Erleichterung.“ Ist das Küsteramt für ihn eigentlich Berufung? „Nein, das wäre zu hoch gegriffen“, sagt Pulz-Kersebaum. „Aber der persönliche Glaube an Gott gehört für mich dazu. Küsterei ohne Glauben, das kann ich mir nicht vorstellen. Das passt nicht zusammen. Man muss inhaltlich dahinterstehen.“ Und drei Augenpaare haben? „Möglichst“, zwinkert Pulz-Kersebaum. „Und sechs Paar Hände. Zumindest an Weihnachten.“

Daniel Wildraut
ist Online-Redakteur beim SCM Bundes-Verlag und lebt mit seiner Familie in Witten an der Ruhr.